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Juan S. Guse: Miami Punk
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Juan S. Guse: Miami Punk

Mit Lorbeeren überhäufter Pageturner, der (nicht) jede Lobpreisung rechtfertigt.

Liebe Leserinnen und Leser,

meist schaffe ich es, wenig bis gar nichts über die Handlung des vorgestellten Werkes zu verraten. Das ist diesmal leider nicht möglich, deshalb das Fazit zuerst:

“Miami Punk” wurde im deutschen Feuilleton hoch- und runter gelobt. Wenn ihr also wisst, dass ihr euch demnächst auf einer Vernissage einfinden werdet, auf der so etwas Thema sein könnte oder sollte oder ihr euch prinzipiell dafür interessiert, was in den Elfenbeintürmen der Literaturkritik so besprochen und hoch gehandelt wird: dieses Buch ist für euch! Das 2. Werk des mit dem Ingeborg-Bachmann-Preises ausgezeichneten Juan S. Guse hat eine sehr starke, dystopische, und leider auch nicht ganz unrealistische Grundidee, die fast im Alleingang den Roman zu einer Empfehlung macht. Also: lest “Miami Punk”, es ist keine verschwendete Lebenszeit.


Und? Wie fandet ihr es? Welche Gefühle, Reflektionen und Reaktionen hat die Lektüre von “Miami Punk” in euch ausgelöst?

Wir können jetzt aber auch mit dem Vernissagenquatsch aufhören und einfach über das Buch schreiben (ich) und lesen (ihr).

Das Ausgangsszenario ist eine gute Idee: Über Nacht hat sich der Atlantik zurückgezogen, Miami ist nicht länger die Stadt am Ozean, an der schöne Menschen ihre Körper am Strand stählen und dann in der Dauerwerbeindustrie verkaufen, tausende Touristen Margaritas schlürfen und der Hafen einer der wichtigsten Arbeitgeber ist, während drunter der sumpfige Morast wartet und an allem schiebt und zieht.

Wie wir zu unserer Lektüre gelangen: In meinen jungen Jahren, als ich den damals geltenden Kanon verschlang und über die Nennung von Namen diverser Schriftsteller (nicht gegendert, Männer verwiesen auf Männer) von den 1920er bis zu den 1960er Jahren hüpfte, hatte ich:

  1. die dafür erforderliche Zeit und(

  2. eine noch sehr hohe Toleranzschwelle sowie ein ausgeprägtes Pflichtgefühl.

Letztgenanntes zwang mich, jedes angefangene Werk zu Ende zu lesen (oder mindestens zu überfliegen), dafür brauchte es die Toleranzschwelle.

Etwas schamvoll muss ich gestehen, dass es mir gar nicht in den Sinn kam, ein Buch NICHT zu Ende zu lesen, bevor ich las, dass so etwas möglich ist. Wenn einen das Buch nicht langweilt, kann ein sehr anspruchsvolles1 Buch wenigstens mit Staunen und Wundern belohnen.

Wenn man heute googelt, ob das in Ordnung ist, sind die nächsten Fragen: “Ist es ungesund zu viel zu lesen?” oder “Welche Nachteile hat das Lesen?”

Ihr müsst nicht nachschauen: Die letzte Frage behandelt den Genuss von Audiobüchern, nicht das “Lesen” an sich (es gibt keine Nachteile2 - außer natürlich die falschen Bücher).

Zurück zur Art der Empfehlung: sich über Quellen- und Querverweise von Lektüre zu Lektüre zu hangeln, erschließt leider nur die Welten ähnlicher Gleichgesinnter, weil sich ja alle kennen oder zumindest in denselben Kreisen angesiedelt sind, die die anderen Autoren jeweils akzeptabel oder gar dufte finden.

Irgendwann, als ich auch nicht mehr Zeit hatte alles zu lesen, was mir irgendwie angespült wurde, entdeckte ich das deutsche Feuilleton und seine Empfehlungen.

Blöde nur, wenn man dann3 merkt, dass das enorm abhängig von der Marktstellung des jeweiligen Verlages und des verwendeten Marketingbudgets abhängt.

Gut, in Ausnahmefällen schafft es auch mal ein Buch aus einem Indie-Verlag4, einen Bestseller zu landen, aber das passiert nicht allzu oft.

Heutzutage versuchen die unabhängigen Verlage entgegenzusteuern, es gibt zahllose Buchempfehlungs- und Literaturblogs, die gefühlt alles “sehr spannend” finden, uff.

Nichtsdestotrotz mag ich Buchempfehlungslisten, gerne nach Jahreszeit und vermutetem Anlass (Strandlektüre!) oder direkt nach Autor.

Noch besser wird es, wenn Menschen (Schriftsteller oder Konsumenten) ihre Vorlieben offenlegen, da sind dann auch mal größere Überraschungen dabei.

All das bewegt sich aber immer noch ganz schön im eigenen Dunstkreis, weil Zeitschriften ja ihre Leserschaft analysieren und den Teufel tun werden etwas zu empfehlen, was ihre Fans (lies: Abonnenten) überfordern würde.

Hierfür war in den letzten Jahren Twitter eine gute Quelle, weil sich Menschen die Zeit nahmen, bei großen Ereignissen oder verachtungswürdigen Scheußlichkeiten ein paar Buchempfehlungen für diejenigen zu hinterlassen, die nach Erklärungen oder Verständnis suchen. Was aus Twitter geworden ist, wisst ihr sicher selbst.

Ein nicht unbedeutendes Mittel der Buchempfehlungen sind die auf den Werken selbst (entweder auf der Rückseite oder als eigenständiger Teil des Buches direkt am Anfang) aufgedruckten Lobpreisungen anderer Schriftsteller*innen oder Medien (sprich Zeitungen, Websites u.ä.), wenn man in der Buchhandlung seines Vertrauens neuen Stoff sucht. War das früher etwas, woran man sich tatsächlich langhangeln konnte, ist auch das ein längst ein Millionen-Business.

So abstoßend, dass mir wahrscheinlich spannende Lektüre entgangen ist, weil ich dann einfach bockig werde. Richtig aufgefallen und -gestoßen ist mir das bei Don Winslow, von dem wir ja bekanntermaßen Fans sind.

Und nun der Kreisschluss zum heute empfohlenen Werk: Auf der Verlagsseite findet sich nicht nur eine ins Englische übersetzte Passage, sondern auch eine Vielzahl von geradezu ekstatischen Lobpreisungen: “[...] ein wunderbar schwer verdaulicher Roman. Das macht ‘Miami Punk’ zu einem der derzeit ungewöhnlichsten Bücher auf dem deutschen Markt. Ein Werk mit magischer Qualität.”

Wunderbar schwer verdaulich? Sowas kann nur jemand schreiben, der nie unter Verstopfung und Schmerzen gelitten hat. Und das “derzeit” ist ein geradezu genial eingebauter kleiner Schritt zurück - als ob Bücher nicht länger als ihren Veröffentlichungsmonat existieren würden (Bücherei von Alexandria anyone?). Und “magische Qualität”? Jesseshergottnochmal.

Oder hier: “‘Miami Punk’ ist der vorläufige Höhepunkt der neuen, ebenso ironischen wie politischen Endzeitliteratur.” Boah: “vorläufig, ironisch wie politisch”. Das bekommt man nur sehr schwer ausgeatmet, da muss man direkt “Krieg der Welten” einschalten5.

Weiter in den Lobpreisungen für “Miami Punk”: “...Zeug zum Kultroman…ist ein ebenso größenwahnsinniger wie genialer Roman…so brutal, gelungen und unerwartet wie ein Schnipsel der Musikrichtung, von der der Roman die Hälfte seines Namens hat. …ist in erster Linie ein Gesellschaftsroman über das 21. Jahrhundert…recht unüblicher Referenzraum aus Trash, Nerdculture und Pop…”

Ich denke, es reicht.

Gestoßen bin ich auf “Miami Punk” übrigens, weil ein Bekannter es auf dem Kindle hatte und der eine Woche bei mir in der Küche lag (Der Kinde, nicht der Bekannte!). Wenn ich die Lobpreisungen vorher gelesen hätte, wäre es liegen geblieben. So hatte ich eine unterhaltsame Zeit. Und all die, die das Buch nicht direkt nach der Empfehlung gelesen haben, wurden nicht über die 1. Romanseite hinaus gespoilert 🙂

1

anspruchsvoll meint hier: für eine*n selbst und vielleicht auch (etwas/sehr) überfordernd.

2

sondern neben den offensichtlichen Vorteilen auch eine exzellente Begründung für Prokrastination.

3

*** Jetzt braucht hier keiner kommen: “Also MIR war das ja immer klar.” oder “Obviously.” Nicht jede*r ist ein Blitzmerker.

4

Und hier noch eine Quelle, die vielversprechend für Buchempfehlungen ist.

5

Ich meine das Radiofeature aus dem Jahre 1938. Es gibt (natürlich!) auch einen Film mit Tom Cruise, den habe ich aber nicht gesehen, deshalb dafür keine Wertung.

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