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Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise
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Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise

Die Überschienung des Lebens.

Das heute hier vorgestellte Werk wurde für den Deutschen Buchpreis für Belletristik nominiert, 2019 war das. Nun bin ich drauf gestoßen und weiß nicht wie.

Jan Kraus ist Sterbebegleiter. Er wird von Angehörigen engagiert, die letzte Reise zu begleiten. Zuzuhören, Dazusein, zu Pflegen. Es geht um den Tod, aber mehr noch darum, wie man dorthin gelangte. Er wird von einer Tochter beauftragt, sich um ihren Vater zu kümmern. Der war in Westberlin Straßenbahnfahrer. Busse sind ihm verhasst, er hatte 3 Ehefrauen, die alle nahe den Zügen begraben sind.

Eigentlich wollte er Zugführer werden, aber das ging nicht. Er heißt Winterberg, und Winterberg ist vom Sterben und vom Tod besessen. Das wurde ihm auch ein bisschen in die Wiege gelegt, sein Vater1 eröffnete in Liberec (damals Reichenberg) das 1. Krematorium auf dem Gebiet der jungen, gerade gegründeten Tschechoslowakei.

Winterberg (fast) einziges Interesse gilt der Geschichte. Sein treuer Begleiter ist der Baedeker, genauer dessen letzte Ausgabe des Baedeker für Österreich-Ungarn aus dem Jahre 1913. Winterberg will auf eine letzte Reise gehen, Jan Kraus begleitet ihn. “Winterbergs letzte Reise” ist kein leichtes Werk. Wenn man sich hineinbegibt, empfängt es einem wie in einem Fluss, aber der rattert, denn es ist natürlich eine Zugreise.

Die spezifische Sprache, die Jaroslav Rudiš hier verwendet, erinnert mit ihren ständigen und dabei variierenden, fast formelhaft gebrauchten Redewendungen des Protagonisten Winterberg an Paul Celans “Todesfuge”.

Dabei zitiert Winterberg so ziemlich ununterbrochen aus dem erwähnten Baedeker und treibt damit insbesondere Jan Kraus in den Wahnsinn, der mit den Dämonen seiner eigenen Geschichte konfrontiert ist. Die Reiseroute: Königsgrätz, Pilsen, Budweis, Linz, Budapest, Brünn und am Ende auf die Insel Usedom.

Dabei ist insbesondere die Schlacht von Königsgrätz ein Ereignis, das früher in der Schule eine geringe (oder in meinem Fall: keine) Rolle spielte. Für Winterberg ist es der wichtigste Wendepunkt der europäischen Geschichte: 1866 endet die Schlacht mit der österreichischen Niederlage gegen Preußen, eine neue europäische Ordnung entstand - und endete in 2 Weltkriegen.

Königgrätz war die erste Schlacht in Europa, vor der große Truppenkontingente per Eisenbahn verlegt wurden. Die Sachsen standen (wie so oft) auf der Verliererseite.

Die Geschichte Europas wird durch die Entwicklung der Züge und Zugstrecken vorangetrieben. Dabei spiegeln sich Fortschritt und Barbarei: Die Feuerhalle, die eine moderne Bestattung verspricht, auf der anderen Seite die Krematorien von Auschwitz. Die Geschichte Böhmens, einst Österreich-Ungarn, dann auf dem Gebiet der Tschechoslowakei, dann von den Nazis besetzt, dabei vielfach von den in Böhmen lebenden Deutschen unterstützt.

Winterberg verzweifelt an der Geschichte. Weit mehr noch aber an der Ignoranz der Menschen, die die Historie nicht durchschauen und schlimmer noch: dies auch gar nicht wollen. Geschichtliche Weichen werden weit vor der eigenen Zeit gestellt.

Einige der Motive, die immer und immer wieder und dann noch einmal präsentiert werden sind: Das von Rudolf Bitzan entworfene Krematorium ("Feuerhalle“) in Reichenberg, Amand von Schweiger-Lerchenfelds Standardwerk „Die Überschienung der Alpen“. Wunderbar, die Lösung von Problemen folgerichtig als Überschienung zu bezeichnen. Dazu kommen all die Toten, die "keine schöne Leichen" waren, von der "beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins", als die ein Engländer ihm einst Mitteleuropa beschrieben hatte.

Mittelpunkt des Romans sind also der Tod und die ganzen Sauereien und Grausamkeiten, die sich Menschen zufügen. Die geraten dann in Vergessenheit und hinterher sind wieder alle überrascht, wie das geschehen konnte. Gleichzeitig der Kampf (oder das Streben) nach etwas Neuem, Besseren, das (zu) oft nicht gelingt.

“Winterbergs letzte Reise” ist Jaroslav Rudiš erster Roman auf deutsch.

Für seinen Beitrag zur Verständigung von Tschechen und Deutschen wurde der Autor von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

Das Buch ist schon ein bisschen schwer zu ertragen und zu verkraften, aber es lohnt sich. Fast hätte ich es vergessen: es ist nicht nur tragisch, sondern auch komisch. Große Empfehlung.

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sein Vater ist natürlich fiktiv, ansonsten ist der ganze Roman auch wie ein Geschichtsbuffet, bei dem man immer mal wieder Personen, Begriffe, Werke und Ereignisse nachschlagen kann und dabei eine Menge über die lokale und nicht ganz lokale Geschichte lernt.

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