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Yael Inokai : Ein simpler Eingriff
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Yael Inokai : Ein simpler Eingriff

Was ist schon normal?

Ist es denkbar, dass ein medizinischer Eingriff, der am Gehirn stattfindet und bei dem Teile der menschlichen Persönlichkeit „eingeschläfert“ werden, simpel sein kann? Ein Eingriff, bei dem ein Mensch eines Teils seiner Persönlichkeit, so unliebsam sie auch sein mag, beraubt wird und sich anschließend wieder als braves und folgsames Mitglied in die Gesellschaft einreiht? Es ist schwer, sich solch ein Szenario vorzustellen und der Gedanke daran weckt bei mir gleichzeitig Erinnerungen an reale, grausame Experimente, die wir aus der Geschichte der Menschheit kennen. In Yael Inokais 2022 im Carl Hanser Verlag veröffentlichten Roman Ein simpler Eingriff sind diese Art Operationen bereits alltäglich, was sie jedoch nicht weniger bedenklich oder gar fehlerfrei macht.

Meret, eine der Protagonistinnen die uns durch den Roman führt, ist Mitte Zwanzig und Krankenschwester in einer Klinik, in der regelmäßig Eingriffe an, vorwiegend Frauen, vorgenommen werden, die folgendermaßen beschrieben werden:

„Jene Eingriffe sollten Menschen von ihren psychischen Störungen befreien und sie in eine neue Zukunft entlassen, eine echte Zukunft, nicht nur eine fortwährende Existenz.“ (S.5)

Meret, die eine Verfechterin dieser Eingriffe ist, hat die Aufgabe, die Patientinnen, die bei vollem Bewusstsein am Gehirn operiert werden, während der OP zu betreuen, mit ihnen zu sprechen, sie zu beschäftigen und ihnen Ruhe und Sicherheit zu vermitteln. Ihr empathisches Wesen kommt ihr bei dieser Aufgabe zugute und wird auch von ihrem Chefarzt – dessen Name nie genannt wird – geschätzt, wohingegen beim Lesen der Eindruck entsteht, dass der Doktor selbst von Mitgefühl nicht viel weiß, weshalb Meret bei ihm eine besondere Stellung genießt und er sie regelmäßig in diesen Dingen konsultiert:

„Er ließ mir Kaffee bringen. Er sagte, er interessiere sich für das Mitgefühl. Er glaube, es werde vernachlässigt, inwiefern die menschliche Komponente bei der Behandlung eine Rolle spiele. Darüber wolle er mehr in Erfahrung bringen.“ (S. 36)

Es wirkt befremdlich auf mich, dass das medizinische Verfahren im Roman so fortschrittlich ist, wohingegen die menschliche Ebene und der Zusammenhang zwischen Körper und Geist im krassen Gegensatz dazu stehen, da sie noch in der Erkundungsphase zu sein scheinen. Ein Bruch der umso mehr verdeutlicht, dass die spezifischen Bedürfnisse und eine wirkliche Heilung bzw. Wohlbefinden in diesem Kontext und in dieser Gesellschaft gar keine Rolle spielen, sondern dass die Menschen angepasst und unauffällig sein sollen. Überhaupt lässt sich schwer sagen, an welchem Ort und in welcher Zeit Yael Inokai ihren Roman ansiedelt, da er technologisch futuristisch, vom Setting her aber eher in der Vergangenheit zu spielen scheint.

Die drei Kapitel, in die sie ihren Roman gliedert, sind nach den drei Protagonistinnen benannt, wobei Meret erst Titel des letzten Kapitels ist. Kapitel Nummer eins ist mit Marianne überschrieben. Sie ist das jüngste von vier Kindern, die einzige Tochter, der wohlhabenden und Ansehen genießenden Familie Ellerbach und Patientin in der Klinik, da sie unter unkontrollierbaren Wutausbrüchen leidet, die durch den Eingriff beseitigt werden sollen. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung beauftragt der Chefarzt Meret, sich ausschließlich um Marianne zu kümmern, der sich Meret zudem nach und nach auf besondere Weise verbunden fühlt. Umso tragischer ist es, als der Eingriff bei Marianne misslingt und sie nach der Operation nicht mehr ansprechbar ist. Trotzdem besucht Meret sie weiter, auch nachdem Marianne in eine andere Klinik verlegt wird. Neben einem von Mariannes Brüdern ist sie damit jedoch die Einzige, da die Familie die Tochter nach dem missglückten Eingriff aus dem öffentlichen Bild tilgt.

Die dritte Protagonistin ist Sarah, die ebenfalls Krankenschwester ist und in derselben Klinik wie Meret, aber auf einer anderen Station arbeitet, so dass sie sich im beruflichen Umfeld, auch aufgrund ihrer Schichten nie begegnen. Sie teilen sich jedoch ein Zimmer im Schwesternwohnheim und sehen sich anfangs auch hier nur selten. Nach und nach wird der Kosmos ihres gemeinsamen Zimmers jedoch zu ihrer Welt. Sie nähern sich vorsichtig einander an, tauschen sich über ihre Familien aus, beginnen kleine Ausflüge zu unternehmen und sich Nachrichten auf Zetteln zu hinterlassen, auf denen sie sich verabreden. Daraus erwächst schließlich nicht nur eine Freundschaft, sondern Liebe, die jedoch ausschließlich auf ihr gemeinsames Zimmer begrenzt ist. Während Meret sich in dem System, in dem sie lebt, wohl fühlt – Regeln und Vorgaben sind ihr wichtig und geben ihr Sicherheit – und sie auch an die Wirksamkeit der Eingriffe glaubt, stellt Sarah diese in Zweifel, was zu Konflikten zwischen den beiden führt.

„Manche waren gut darin geworden, sich jede Meinung abzugewöhnen. Die Vorgaben und Regeln fingen einen immer auf. Meinungen konnten das nicht.“ (S. 25)

Die Liebe zwischen den beiden jungen Frauen bewirkt aber auch einen Wendepunkt in Merets Einstellung, denn Homosexualität entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm und soll ebenfalls mittels der Eingriffe 'geheilt' werden – was sie zu potenziellen Patientinnen machen würde – und auch der missglückte Eingriff bei Marianne sowie Sarahs kritische Einstellung, lassen Meret langsam erste Zweifel kommen.

Wir wissen, wann Yael Inokais Roman veröffentlicht wurde, in welcher Zeit er spielt, wissen wir nicht und müssen es auch nicht, denn die Themen sind aktuell. Es geht um eine Gesellschaft, die bestimmen möchte, was normal ist und diesen Zustand, wenn es sein muss, mittels operativer Eingriffe herstellt. Unterworfen sind ihr vor allem Frauen, deren Verhalten und Gemütszustände bewertet werden. Sind sie beispielsweise zu laut, zu wütend, oder lieben die 'falschen' Personen, dann sind sie unliebsam und geeignet für den Eingriff. All dies geschieht unter dem Deckmantel, ihnen helfen zu wollen, so wie es auch der Doktor gegenüber Meret deklariert , denn er hat sehr wohl erkannt, welches Verhältnis sie zu ihrer Mitbewohnerin pflegt.

„ »Es gab in anderen Kliniken gute Erfolge«, sagte er, »mit Störungen wie den Ihren. Neigungen, die nicht in einen Menschen gehören...so etwas muss nicht unbehandelt bleiben. Ich möchte hier auch damit anfangen. Vielleicht könnte das dann auch eine Lösung für Sie sein. Ich würde Ihnen gerne helfen.« “ (S.150)

Dass er gar nicht um Hilfe gebeten wurde und nur er es als Störung wahrnehmen könnte, spielt dabei für ihn keine Rolle. Der Doktor bleibt, wie viele andere, vor allem männliche Personen im Roman, namenlos, weil er für viele steht; für die Unzähligen, die Unterdrückung und Übergriffe als Hilfe tarnen. Auch Merets Vater wird nicht namentlich benannt und ihre familiäre Situation ist geprägt von Gewalt durch ihn, durch aushalten, still sein und ertragen ihrerseits. Ihre Schwester ist anders, sie provoziert und steckt die Schläge ein wie einen Triumph, als ein Zeichen dafür, dass sie die Kontrolle behalten hat.

Meret geben ihr ihre Arbeit und der Krankenhausalltag Sicherheit. Es ist ein System in dem sie eine von vielen ist, ihre Aufgaben kennt und diese gern erledigt. Ihre Schwesterntracht, die sie mit den anderen gleich macht, spielt dabei eine wichtige Rolle. Das Uniformieren generell scheint ihr wichtig zu sein, trägt sie doch auch immer ein und dasselbe Kleid, wenn sie ihre Eltern besucht. Durch ihre Liebe zu Sarah wird zwar das Gefüge in dem sie sich eigentlich wohl fühlt nicht aufgebrochen, es bekommt aber nach und nach Risse, denn Meret beginnt sich zu emanzipieren und die Dinge, die ihr gut tun selbst in die Hand zu nehmen, für sie einzustehen. Als Frau ein selbstbestimmtes Leben zu führen ist generell eines der großen Themen des Romans, dass Inokai uns an fast allen ihren weiblichen Figuren auf unterschiedliche Weise vor Augen führt. Ihre Sprache ist dabei voller Andeutungen und Unausgesprochenem, das wir uns selbst denken müssen oder beim Lesen direkt fühlen. Ihre Beschreibungen des Krankenhausalltags wirkten anfangs fast kammerspielartig auf mich, was durchaus eine eher trübsinnige Stimmung auslöste, die sich aber mit dem Fortgang der Geschichte veränderte.

Yael Inokais Ein simpler Eingriff ist ein Plädoyer für Selbstbestimmtheit und Emanzipation, dafür zu hinterfragen und für nichts weniger als Freiheit. Dabei kommt es nicht donnernd daher, sondern weiß ruhig und eindringlich auf gerade einmal etwas mehr 200 Seiten zu erzählen und hat, wie ich finde, dafür zu Recht den Anna-Seghers-Preis erhalten. Auch von mir eine Empfehlung.

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