Sinéad O'Connor ist nicht mehr auf dieser Welt. Das ist sehr traurig. Und während viele sich an “Nothing Compares 2U” und das zerrissene Papstbild erinnern, ist das doch ganz schön wenig. Deshalb sei heute allen noch einmal ihre Autobiographie ans Herz gelegt und als kleine Zugabe gibt es dieses Interview:
Guten Morgen!
Liebe Hörerinnen und Hörer, liebe Leserinnen und Leser,
vielleicht geht es euch heute früh noch nicht so gut, vielleicht habt ihr gestern in einer Bar noch einmal ausgetrunken, bevor sie ab morgen wieder geschlossen sein werden.
Drückt lieber noch einmal die Stopptaste, trinkt einen Kaffee, wascht den Zigarettenrauch aus den Haaren, geht eine Runde um den Block, bis ihr wach seid.
Willkommen zurück!
Diese Einleitung war der bereits 2. Versuch über das Werk zu schreiben, kurz, bevor die Bars wieder einmal geschlossen wurden.
Seit 6 Monaten scheue ich mich vor dieser Rezension und prokrastiniere, und eigentlich ist die TL;DR Zusammenfassung auch schnell und voller Überzeugung heruntergeschrieben:
Lest Sinéad O’Connors Autobiographie “Rememberings”, sie ist das beste Buch der letzten Dekade und die nachfolgenden Zeilen sind ein paar Hinweise, Zusammenfassungen, Überlegungen, die - leider - diesem Werk sowieso nicht gerecht werden können. This is no fishing for compliments, sondern Fakt.
Spoiler Alert/Triggerwarnung: In einer ersten Fassung dieser Rezension hatte ich es tatsächlich vermocht, mich auf meine Empfindungen zu beschränken und de facto nichts zu verraten, aber das heißt nichts anderes, als mich selbst zu wichtig zu nehmen, wenn es eigentlich um ein wirklich herausragendes Buch geht.
Die Triggerwarnung stelle ich für sehr schwer auszuhaltende Schilderungen von physischer und physischer Gewalt voran.
In einem Interview in “The View”, einer Show auf dem Sender abc hat Sinéad O’Connor ihre Autobiographie als “wichtigsten Song, den sie je geschrieben hat” bezeichnet.
Unschuldig genug geht es los. Sinéad O’Connor beginnt ganz von vorn. Mit den Augen eines Kindes beschreibt sie ihre Familiengeschichte, die 1966 in Irland beginnt: wer sind die Großeltern, wer sind die Eltern, wo haben sie sich getroffen, wann sind ihre Geschwister geboren, alle Namen werden genannt. Eine verwirrende Anzahl der männlichen Personen trägt den Namen John. Dazwischen eingesprenkelt kurze Bilder von Begegnungen und Beobachtungen: die Eltern des Vaters, die Portwein trinken gehen, weil sie sich lieben. Die wüsten christlich geprägten Flüche des Großvaters mütterlicherseits, wenn er Frauen im Fernsehen oder auf der Straße sieht, die seiner Meinung nach unsittlich gekleidet sind.
Der Vater lässt sich scheiden und erhält - ein für Irland außergewöhnlicher Fall - das alleinige Sorgerecht für die gemeinsamen 5 Kinder. Doch Sinéad und einer ihrer Brüder wollen zur Mutter zurück. In ruhigem Duktus, offen, ohne Scham oder Wertung beschreibt Sinéad O’Connor ihre Erlebnisse. Ihre religiösen Erfahrungen, wenn ihr Jesus erscheint, während ihre Mutter sie unbarmherzig zusammentritt. Wie sie bei einem Unfall auf einem Bahnhof schwer verletzt wird, als sich bei einem fahrenden Zug eine Tür öffnet und sie mit voller Wucht trifft. Danach kann sie keine großen Plätze mehr ertragen, Angststörungen sind die Folge.
Ihre Mutter ist eine Kleptomanin, Sinéad ihre Komplizin. Sie kommt auf eine Boarding School für “schwierige” Mädchen, auch dort verstörende Ereignisse, wenn eines der Mädchen schwanger wird und ihr Kind weggenommen wird. Aber auch die Möglichkeit zu musizieren. Kurz vor der Veröffentlichung ihrer ersten Platte mit 18 stirbt ihre Mutter.
Sinéad O’Connor wird zur Ikone, ihre Interpretation des von Prince geschriebenen “Nothing Compares 2U” macht sie weltberühmt und kommerziell erfolgreich. In einigen Kapiteln von “Rememberings” geht sie auf einige ihrer Begegnungen mit anderen berühmten Musikern ein. Die mit Prince ist ohne Zweifel die verstörendste, Lou Reed ist ein Feiner, über Anthony Kiedis lacht sie ganz gut.
Nach ihrer 3. Platte dann der Riesenskandal, als sie in Saturday Night Live ein Bild des Papstes zerreißt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ihre Motive dafür ernsthaft diskutiert wurden. Als Kritik an der katholischen Kirche wurde es damals als geradezu terroristische Handlung verurteilt. Aber das war vor dem Internet und während heute ziemlich sicher ihre Stimme gehört worden wäre, war es damals einfach erstmal mit der Karriere vorbei. Da wurden mit Straßenwalzen ihre Platten öffentlichkeitswirksam exorziert, sprich zerstört, und in den Medien wurde sie als Irre hingestellt. Für sie ein nicht unwillkommener Abgang von der großen Bühne, die kein Popstar, sondern ein Protest Singer sein wollte.
Das Papstbild, dass sie zerriss, hatte im Schlafzimmer ihrer Mutter gehangen. Fast 20 Jahre danach begannen die weltweiten Enthüllungen und Skandale über den systemischen sexuellen Missbrauch, den Umgang mit Sündern, das System von Strafeinrichtungen in Irland, in denen unverheiratete Mütter gequält und ihre Kinder entweder weggenommen wurden oder unter schrecklichen Bedingungen starben. Mit dem Zerreißen des Bildes in einer großen Show wollte sie gegen die im Namen der katholischen Kirche verübten Gräueltaten protestieren, die nicht nur in der Kirche, sondern eben auch in den Häusern stattfanden. Für uns kaum vorstellbar, wie es sich in der irischen Theokratie lebte, in der das Verprügeln von Kindern in Schulen und in den Familien Standard war und von Generation zu Generation weitergegeben wurde; in der man keine andere Wahl hatte, als den 1. Boyfriend zu heiraten, keine Verhütungsmittel; in der es bis 1985 illegal war für Frauen nach der Hochzeit zu arbeiten, die gezwungen waren, ein Kind nach dem anderen zu gebären, und - wenn zu offensichtlich unglücklich - auf Valium gesetzt wurden.
Fest ihren Überzeugungen verpflichtet, auch wenn es sie zum Paria macht. Wenn die Geschichte richtet, steht sie ohne Zweifel auf der richtigen Seite.
Ihre Schilderungen der Einflüsse auf Irland, nicht nur durch die katholische Theokratie, sondern auch politisch-historisch durch Großbritannien, zeigen ein großes Bewusstsein für Ungerechtigkeit, von den Institutionen zu den Menschen in den kleinsten Winkel hinein. Nie bezeichnet sie sich als Antirassistin, ihre individuellen Handlungen, die oft konträr zu den gesellschaftlichen Erwartungen sind, zeigen sie jedoch als solche. Die Wucht ihrer Autobiographie entfaltet sich dadurch, dass sie, die immer Priesterin werden wollte (und irgendwann auch war) nicht predigt, sondern in ihrer eigenen Stimme schreibt.
Zu ihrer Musik gibt sie in einem Block von “Rememberings” einen Überblick zu jeder Platte, erklärt das Warum Weshalb Wieso Mit Wem. Was ich nicht wusste ist, dass eine Vielzahl ihrer Liedtexte aus Scripture, also biblischen Texten, zusammengesetzt ist.
Es gibt viele Erzählungen und Beschreibungen ihrer Erlebnisse, die anrühren ob ihrer Schönheit und auch sehr viele Spass. Nach dem Kapitel mit dem Zerreißen des Papstbildes gibt es einen Bruch, der erst gegen Ende des Buches erklärt wird.
Der 1. Teil ihrer Autobiographie, der bis 1992 reicht, wurde zwischen 2010 und 2014 geschrieben. Danach sind ihre Erinnerungen an die letzten 20 Jahre stark eingeschränkt. Aber ich will ja nicht noch mehr spoilern.
“Rememberings” ist ein besonderes Buch, ein literarisches Werk allererster Güte. Es hat mich angefasst - das ist Code für “zum Weinen gebracht”, aber auch wütend, fassungslos und glücklich. Ein kühles Interesse an der Biographie ist unmöglich. Die Berichterstattung über Sinéad O’Connor ist nach wie vor skandalgeprägt, ihre Darstellung in der Öffentlichkeit oft die einer Irren. Offen geht sie mit ihren psychischen Erkrankungen um.
Sinéad O’Connor ist eine außergewöhnliche Künstlerin, Musikerin und Kriegerin.
Danke fürs Hören und Lesen. Wie zu Beginn versprochen, sind meine Zeilen nicht im Geringsten diesem Werk gerecht geworden. Bitte lest es selbst. In einer Buchhandlung habe ich in die deutsche Übersetzung geschaut, die mir - soweit ich das einschätzen kann - gelungen erscheint.
PS: Hier noch ein relativ neues Interview mit Sinéad O’Connor und den respektvollen Moderatorinnen von The View:
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