Lob und Verriss
Lob und Verriss - Der Podcast
Studio B Klassiker: Eines Tages
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Studio B Klassiker: Eines Tages

Lyrik in schwierigen Zeiten

Wir sind am Ende. OK, des Jahres zunächst, aber wenn man den Gedanken seiner Freunde lauscht, den Medien und folgerichtig oft genug den eigenen, scheint das Ende nah zu sein. In den USA gewinnen die falschen, in Frankreich fast. Wurde 2018 die Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur um 1,5 Grad noch auf 2030 bis 2050 prognostiziert ist es, huch, schon dieses Jahr soweit. Cool, cool. Von Kriegen nur zwei Landesgrenzen entfernt reden wir kaum noch. Weihnachten ist nur, wenn man Rheinmetall-Aktien hat.

Wohin fliehen? In die Lyrik? Es spricht eine Menge dafür, wie vor acht Jahren schon mal aufgeschrieben. Es lohnt die Wiederholung der Argumente.


"Ein Gedicht! Sag ein Gedicht auf!", befiehlt der Weihnachtsmann der Göre und das Geflenne geht los. So entsteht Abneigung für die Urform verbaler Kunst, noch bevor sich ein erster Buchstabe in der Sehrinde manifestiert, das Zerebellum genug Kontrolle über Zunge und Stimmband hat, das erste dreisilbige Wort verständlich formulieren zu können.

Was schade ist, denn das Gedicht ist lebensnotwendig.

Schon am ersten Abend des Daseins auf der Welt wird der noch blinde Korpuskel von der Mutter in den Schlaf gewiegt mit "LaLaLa" und "Schlaf mein Kind", während der stolzgeschwellte Erzeuger mit seinen Kumpels "Zwan-zig Zentimeter" grölend dem Wohnhause zu wankt, um in der Hecke davor zu schlafen. Überlebensnotwendige Erkenntnisse, wie die, dass der Reiter plumps macht, wenn er in den Graben fällt, schließen sich nur kurze Zeit später an, und dass der Hase krank ist, wenn er in der Grube sitzt, vermittelt dem Jungomnivoren das erste Mal die Erkenntnis, dass auch Essen Gefühle hat.

Alles wunderbare, amüsierende, interessante Dinge, die man lernt, wenn man Gedichte hört, doch schnell nimmt der Erkenntnisgewinn von Erzählungen ab, die das Schwimmen von allen (!) meinen (!) Enten auf dem See beschreiben, zumal wenn der Landvogt dem jungen Wilderer schmerzhaft vermittelt, dass sich Besitzstand nicht durch dessen Behauptung erlangen lässt. Also werden die Gedichte länger, die Worte komplizierter, die Handlung nicht sofortig und die Erkenntnisse nicht augenscheinlich. Willkommen im Literaturunterricht.

Schnell bemerkt man, dass es nicht nur kompliziert ist, Gedichte zu verstehen, das reine Vorlesen klingt bei jedem Schüler grauenhaft, und wenn der Lehrer es beispielhaft versucht, hat das mit Mutters Wiegenliedern allenfalls den Effekt gemein. Muss man im Unterricht Balladen über längst ersoffene Steuermänner ertragen, unterwegs auf großen Seen zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten, deren Bezug zur persönlichen Lebenssituation sich nicht erschließt, mit zu vielen Pickeln an sichtbaren und nicht genug Haar an verborgenen Stellen und dann - verdorrt extrakurrikulär die letzte blaue Blume der Sympathie für die Lyrik im Kichern dämlicher Ziegen oder Böcke beim Lesen des ersten poetischen Versuches, in Wahrheit des 23ten, der den Weg doch in nur eine ganz spezielle Schiefermappe finden sollte. Karola Matschke ist SO doof.

Abends im Bett, flennend, den Kopfhörer auf der Kaltwelle hört man dann - ja, was? Gedichte. Vertonte Gedichte von Leuten, die offenbar die richtigen Worte finden:

When we wandered through the rain/
And promised to each other/
That we'd always think the same/
And dreamed that dream/
To be two souls as one

die einen Shit geben auf Jamben und Hebungen und wenn man das Teil über das Girl in Paris, so beautiful and strange, zum 14. Mal hört, war es nicht einmal langweilig, man hat viel gelernt:

so beautiful and strange:/
Until you spoke/
"I hate these people staring./
Make them go away from me!"

und schläft endlich ein, in den Schlaf gewiegt, wie es der Mutter "LaLaLa" nicht hätte sanfter tun können.

"Ja, das ist ja Musik", sagt der befragte Teenager, "was hat das mit Gedichten zu tun?".

"Sehr viel", erwidert der aufgeklärte Literat und

"Alles!!", steigert es semi-kompetent aber bestimmt Herr Falschgold.

Denn schon bald dreht sich dein Leben nicht mehr ausschließlich um Karola, Justin oder Kevin, aber Songs bleiben ob als Philosophieunterricht, wenn es die Gene und Interessen hergeben:

Oh you understand change and you think it's essential,

und wenn nicht, dann findet der alberne Teenie vorzeitig gealtert zurück, zu den "zwanzig Zentimetern" seines Erzeugers, was okay ist, jeder hat seine Träume und Gedichte helfen, sie nicht zu vergessen.

Man beginnt Liedgut in der Muttersprache zu hören, es geht schließlich nicht mehr darum, der coolste Honk auf dem Hof zu sein, und wenn man Geschmack hat und das Glück, in halbwegs der richtigen Zeit aufzuwachsen, findet man ein deutschsprachiges Album, das beides ist: cool wie Honk und tief wie Rilke. Es war damals schon 10 Jahre alt und trifft einen empfänglichen 20-jährigen zerebralen Grufti ins Hirn:

Es liegt ein Grauschleier über der Stadt/
den meine Mutter noch nicht weggewaschen hat

und ist zudem zeitlos komponiert und arsch-tight auf die Musik getextet, es knackt und packt dich mit jeder Zeile:

Richtig ist nur was man erzählt/
benutze einzig was dir gefällt/
Bau dir ein Bild so wie es dir passt/
sonst ist an der Spitze für dich - kein Platz/

Monarchie und Alltag heißt die Fehlfarben größte Platte, erschienen 1980 und in meiner Rangliste 19 Jahre unübertroffen.

1990 begann ein gewisser Jochen Distelmeyer am Thron zu sägen, zusammen mit seinen Freunden in der Band Blumfeld. In den ersten Alben rough in Ton und Text findet Jochen Distelmeyer 1999 seine Stimme und zu Recht von ihr begeistert beginnt das Album mit einem Gedicht von 5 Minuten und 47 Sekunden Länge

Wie ein Leben aus Rhythmus, Inhalt und Beschreibung besteht, beschreibt "Eines Tages", Track 1 auf Blumfelds 1999er Album Old Nobody, ein Leben durch Rhythmus, Metapher und Sprache. Des Lebens Gleichförmigkeit abgebildet in Distelmeyers lakonischem Vortrag ist es ein kompliziertes und so sind die Metaphern, die es beschreiben. Aber auch ein kompliziertes Leben kann schön sein, wenn man es beschreibt wie Jochen Distelmeyer. Es zu hören macht nicht bitter, denn man kann physiologisch dem Metaphernstakkato nicht lang folgen. Es füllt die Verarbeitungseinheiten bis sie überlaufen, GIGO nennt man das in der IT, Garbage in, Garbage out. Was nicht verarbeitet wurde, wird unverarbeitet ausgeschieden. Irgendwann gibt der Dekodierer auf und überlässt das Hirn dem Rhythmus, gelegentlich angeregt von feinen Worten, fremden Sprachen, alles andere ist - Trance.

Oder, ein Bild für den romantischen Hörer, "Eines Tages" beginnt wie eine Karussellfahrt, die ersten Runden sieht man die Eltern noch, die Freundin, den Freund, bald sieht man nur noch Farben. Man ist allein mit sich und seinen Gedanken, gelegentlich tauchen Schemen auf und verschwinden wieder, es könnte ewig so weitergehen. Und doch merkt man den Zenit, wie die Runden unmerklich länger werden, man kann sich fast schon wieder konzentrieren auf das Außen, die Metaphern werden wieder klarer. Auf einmal spürt man, dass der kleine Anfall von Depression sich gen Ende neigt, eine klare Verlangsamung jetzt, gleich ist's vorbei, doch noch nicht, die letzte Runde, doch noch eine und dann Stillstand. Schluss. Pause. Und der erste Song beginnt, mit einem Himmel voller Geigen.

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