Lob und Verriss
Lob und Verriss - Der Podcast
Stephen Markley - The Deluge
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Stephen Markley - The Deluge

..und ein klitzekleiner Verriss von Neal Stephensons letztem Roman. Wirklich. Unglaublich.
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Der hier besprochene Roman “The Deluge” von Stephen Markley ist bisher nur in englisch erschienen und da er thematisch doch recht USA-spezifisch ist vermute ich wenig Interesse hiesiger Verlage, das wirklich brillante Werk zu übersetzen (obwohl das mit ein paar erklärenden Fußnoten ohne weiteres möglich wäre). Was ich aber vermute ist, dass sich ein Netflix/HBO/Disney findet, das Werk in einem Sechs- bis Sechzigteiler zu verfilmen. Wer sich Spannung und absolutes Nichtwissen über Plot und Ausgang auf diese unbestimmte Zukunft bewahren möchte, höre hier auf zu lesen und erinnere sich, wenn es soweit ist, an meine ausdrückliche Empfehlung dieses Buches. Selbiges gilt für diejenige, die es heute schon in Englisch lesen möchte. Für alle anderen hier die totale Spoilerung. Es muss.


Das Genre “Ecothriller” ist inhaltsbedingt ein eher junges. Zwar hatte schon im Jahr 1824 kein anderer als Joseph “Fouriertransformation” Fourier berechnet, dass das zu dem Zeitpunkt gerade schwer im kommende Verbrennen von Kohle zwecks Erzeugung meist kinetischer Energie die Atmosphäre der Erde wohl thermisch negativ verändern werde, aber a) sah Monsieur Fourier das “in Jahrhunderten” und b) weiß man es hinterher immer besser. Das Problem ist: Das ist jetzt fast die Mehrzahl von “Jahrhundert” her und wir wissen spätestens seit Juli 1977 sehr genau, dass Herr F. recht hatte. Das heißt, nicht unbedingt “wir”, denn der Auftraggeber der Studie, die sehr eindeutig bestätigte, was Fourier damals nur vermutete, war der größte Ölproduzent der Welt und Exxon Mobile behielt die Ergebnisse erwartbar für sich.

So ein Informationsembargo hält nicht ewig, weshalb wir am Ende doch alle davon erfuhren, dass wir den Planeten zu shit verbrennen, wenn wir so weiter machen. Das war in den 1990ern und man erfuhr es nicht unbedingt von den Mahnern sondern, zwischen den Zeilen lesend, in ganzseitigen Anzeigen und Werbespots gegen die “Klimalügen” und von den seltsam immer gleichen Wissenschaftlern in Talkrunden und deren Gegenargumenten, die immer mit “Ja, aber..” begannen. Und wer “Ja, aber..” sagt hat, niemals recht! Wissen wir alle, aus der Zeit, als wir dem Nachbarskind die Luft aus dem Fahrradreifen gelassen haben. “Ja, aber.. der war auch ein Arschloch!”

Nun war der Faschistenharry aus dem Nachbarhaus nichts gegen die Arschlöcher, die in eben diesen 90ern Lobbygruppen mit so harmlos euphemistischen Namen wie “Americans for Prosperity” oder “The Heartland Institute” mit Milliarden von Dollars ausstatten um den mittlerweile feststehenden Tatsachen, dass, wenn wir nicht sofort, also wirklich jetzt, gleich, now, aufhören Öl, Gas und Kohle zu verbrennen in ein paar Jahrzehnten auf einem anderen Planeten leben werden. Und damit war nicht der Mars gemeint, sondern ein Hellhole namens Erde, spätes 21. Jahrhundert.

Wegen dieser Verbrecher hat sich wohl auch das Genresuffix Ecothriller eingebürgert, man findet leider keine Ecolovestories, auch wenn zumindest einer das natürlich versucht: Neal Stephenson in “Termination Shock”. Das Buch ist kaum eine Rezension wert und sei hier nur erwähnt. Stephenson ist bei diesem Buch komplett unter die Räder gekommen. Vielleicht war es Corona, vielleicht liegt Stephenson, dem Utopianer, die Dystopie nicht. Fakt ist, dass das Buch, bereits 2021 auf Englisch erschienen, bisher noch nicht mal einen deutschen Verleger gefunden hat und bei Amazon für knapp 3 € verramscht wird. Stephenson erzählt in einer nahen Zukunft ca. 2029 bis zur Hälfte des 700 Seiten dicken Buches ausführlich wie das politische System der, no shit, Niederlande funktioniert, um den Rest des Buches eine technologische Lösung des Klimaproblems zu erfinden, deren einziger Nachteil ist, dass sie das Klima durch in die Atmosphäre schießen von Schwefel regional unterschiedlich verändert und es den Indern nicht wirklich gefallen wird, wenn der Monsun ausbleibt und die Böden vertrocknen, damit in China die Wiesen wieder grünen. Nicht ganz verständlich kämpfen deshalb Jugendliche an der Indisch-Chinesischen Grenze im Himalaya mit Stöcken gegeneinander und die niederländische Königin verliebt sich in… nein, das ist alles zu bekloppt: “Termination Shock” von Neal Stephenson ist kein gutes Buch und abzulehnen.

Aber: Ecothriller sind auch schwer. Der Handlungsbogen muss ein langer sein und ein verworrener: wie uns die Kachelmänner dieser Welt immer wieder erklären, ist eine Flut, eine Schneelawine noch kein Klimawandel und manchmal eben doch, und bis wir alle daran störben kann es schon noch ein paar Jahrzehnte dauern - eine ziemliche Herausforderung für einen Thriller, der doch von überraschenden Wendungen, Mord, Totschlag und einem Happy End lebt. Vielleicht braucht es einen anderen Ansatz.

Im Jahr 2016 habe ich für ebendiesen Podcast eine eher strange Buchreihe aus den US of A rezensiert: “Left Behind”, ein ganz unglaublicher Bestseller im Herkunftsland und hierzulande eher nicht so. Wird Dir doch “Finale - Die letzten Tage der Erde” beim “Amazon Unlimited” Ramschladen für 0 EUR hinterhergeworfen. Es ist ein ziemlich ewig langer Thriller über die unter Evangelikalen sehnlichst herbei gesehnte Apokalypse, bevor der Herrgott diese zu sich holt und uns Ungläubige und Sünder uns selbst überlässt. Das alles ist gut lesbar geschrieben, ein Pageturner wie der englisch sprechende Leser sagt und der deutsche immer noch nach Entsprechung sucht, ich bin davon nicht zum Christ geworden, es war alles ein bisschen zum Kopfschütteln und dennoch irgendwie schwer weglegbar und, nun ja, spannend! Wie man sich als Christ so vorstellt, wie die Welt endet, ist nun mal faszinierend, zumal, wenn man weiß, dass es einen nicht betrifft.

An diese “Left Behind"-Serie fühlte ich mich erinnert, irgendwann zur Hälfte des vorliegenden Romans “The Deluge”. Das wird Stephen Markley, dem Autor, nicht gefallen, obwohl “The Deluge” betitelt, auf Deutsch übersetzbar mit “Überschwemmung”, “Sintflut” gar, ist es doch ein fundiert recherchierter Ecothriller und keine spinnerte Bibelverwurstung. Aber wir können nichts für unsere Gefühle, so, hear me out:

Zum Zeitpunkt der deprimierenden Endzeitahnung sind wir 400 Seiten im Roman. Ja, “The Deluge” ist ein Brett, ein dickes. Aber ich bin gebannt, die pages turnen. Wir befinden uns im Buch mittlerweile im Jahr 2034, begonnen haben wir im Jahr 2013. Damals, drei Jahre vor Trump, hatte der fiktive Wissenschaftler Tony Pietrus erschütternde und unglaubliche Zahlen auf dem Tisch. Es geht um Methan, den Klimakiller unter den Klimakillergasen, CO2 schaut hier nur neidisch zu. Methan wird zum Beispiel frei, wenn man Erdgas verbrennt, wenn man als Kuh furzt und rülpst, es ist aber ebenso gebunden im arktischen Eis und auf dem Meeresgrund. Und zwar in Unmengen. Und seine Modelle zeigen ihm, was passiert, wenn sich die Erde erwärmt wie prognostiziert. Dass ab einer bestimmten Temperatur das gesamte gebundene Methan zusätzlich zu den üblichen Kuhfürzen frei wird und damit die Erde nochmal extra erwärmt, was zu einem noch schnelleren Abschmelzen der Polkappen führt und zu einem Anstieg des Meeresspiegels um nicht nur die eh schon ziemlich katastrophalen 1 - 1,5 Meter, die ja schon den Exitus für ein paar Städte bedeuten, für Miami zum Beispiel, oder New Orleans. Wenn dieser Kipppunkt also erreicht ist, steigt der Meeresspiegel um lockere fünf bis sechs Meter, was die USA mal eben so um ein Drittel ihrer Landfläche bringt. Und natürlich auch alle anderen Länder des Planeten, die sich auf festem Grund befinden.

Alles auf den ersten 400 Seiten von “The Deluge” hat die Welt fast an diesen Punkt geführt, alles was ein fiktiver Wissenschaftler 2013 zu Papier brachte um damit als Spinner geächtet oder ignoriert zu werden, ist auf bestem Wege einzutreten, Schritt für Schritt, Punkt für Punkt, Unwetter für Flächenbrand, Flutkatastrophe für Fischsterben. Und es läuft fiktiv im Buch ziemlich genau wie im realen Leben - viele Worte wurden geäußert und noch viel mehr Bedenken, Initiativen wurden initiiert und mit viel “Ja, Aber…” wieder einkassiert. Endlich, endlich jedoch stehen sie auf, die Mahner, die jungen Leute, die sehen, wie ihre Zukunft verbrennt, ertrinkt, vergiftet wird und sie belagern die US-Amerikanische Hauptstadt, das Weiße Haus, das Capitol. Nicht nur ein bisschen occupy wall street ,sondern richtig occupy wall street, organisiert, originell, über Monate hinweg legen sie die US-amerikanische Hauptstadt lahm. Nichts geht mehr in Washington DC. Wir sind in der Hälfte des Buches angekommen und sind sehr sicher, dass uns Stephen Markley jetzt die erlösende Perspektive, ja, eine Handlungsanweisung, eine Anleitung gibt, wie wir das Ende der Menschheit, wenn auch spät, doch gerade noch so abwenden können, durch Solidarität, ein Ende der kapitalistischen Extraktionslogik und durch ein Konzentrieren auf das was nötig ist. Dass wir mal die Profitinteressen zurück stellen, das es nicht so schwer sein kann auf seine zweite Fünfhundertmeterjacht zu verzichten, Jeff. Dass man den Jet mal stehen lässt und Homeoffice macht, Elon.

Doch, im August 2034 überzieht eine erneute Hitzewelle Washington DC, 47 ℃ im Schatten über Wochen, das hält kein Aktivist aus, schon gar nicht deren 50.000 - denn so viele sind es mindestens, die die Hauptstadt belagern. Die Besetzung löst sich auf, und als es nur noch ein paar Tausend Demonstranten sind, schickt der aktuelle US-Präsident, ein erwartbar korruptes Arschloch, sein privates Sicherheitsunternehmens rein und erschießt den Rest der Protestierenden. 736 Tote. Mitten in DC. Und mit diesen letzten Aufrechten stirbt die geforderte radikale Gesetzgebung, die letzte legislative Chance, nun doch endlich etwas gegen die mittlerweile katastrophale Erderwärmung zu tun, ja, die Menschheit zu retten.

Haben wir uns bis hierhin im Buch noch wohlig gegruselt, erfahren wir jetzt, dass die dramatisch beschriebenen Katastrophen: Waldbrände, Stadtbrände (Das HOLLYWOOD sign brennt!), Fluten, die östlich vom Mississippi 200 Millionen Menschen betreffen, aber auch politische Katastrophen wie das immer wieder und wiederholte Scheitern von Klimalegislation, der Aufstieg von christlichen Fundamentalisten, die Ermordung von politischen Gegnern, dass all das nur den Spannungsbogen aufspannt und wir ahnen, dass er in der Katastrophe endet. Und dennoch sind wir noch nicht zu 100% entsetzt, denn wenn auch alles erschreckend plausibel klingt (weil es das ist) sind wir als Leser dennoch irgendwie sicher, dass das im realen Leben alles nicht so schnell gehen wird wie im Buch beschrieben. Diese zeitliche Verdichtung, diese Dystopie, macht der Markley doch nur, um die handelnden Personen zusammenzuhalten, man kann ja schlecht einen Ecothriller mit einem Handlungszeitraum von 150 Jahren schreiben. Mit ein bisschen wissenschaftlichem Augenzudrücken bekommt der Markley die Klimakatastrphoe also auf 30 Jahre runterkomprimiert, aber nie im Leben wird das in unserem, dem realen Leben so schnell gehen, das alles wissen wir, sind wir todsicher, und deshalb nehmen wir das Buch als Fabel, als Gleichnis, als Warnung. Das wird schon. Und dann wird fünfzig Prozent im Buch die letzte Chance auf ein Happy End zusammengeschossen und schonungslos beschrieben und wir wissen, das wird hier kein Wohlfühlroman mehr. Das wird hier ein Roman über die letzten Tage der Erde. Und uns wird ein bisschen schlecht. Was ist, wenn der Zeitrahmen im Buch doch stimmt? Wenn in 2035 wirklich der Südpol schmilzt, die Nordpolpassage ganzjährig frei ist. Wir leben doch aktuell im Jahr 2023, holy shit, das sind ja nur noch 12 Jahre. Shit.

Nun bin ich Hedonist, wenn es um Literatur geht. Ich muss keine Bücher darüber lesen, wie des Autors Katze vom Auto überfahren wurde, seine Freundin ihn verlässt und er zum Schluss an Darmkrebs stirbt. Trotzdem kann, ja, muss ich diesen düstersten aller dystopischen Romane so komplett und ohne Vorbehalt empfehlen. Wie hat Stephen Markley das geschafft? Durch schieres schriftstellerischen Vermögen. Das ist umso beeindruckender, da “The Deluge” erst Markleys zweiter Roman und das hier keine Novella, sondern ein ausgewachsenes Buch von 800 Seiten ist, das eine hochkomplexe Story über einen langen, langen Zeitraum beschreibt. Und ein wirklich deprimierendes Thema hat.

Markley wirft uns zu Beginn des Buches mitten in ein Rekrutierungsgespräch. Eine mittzwanziger LatinaX hört sich in einem anonymen Fast Food Joint die Story eines dicken, prototypischen Redneck-Amis an. Der war in der Army, im Irak und in Afghanistan. Dort hat er IEDs, Minen und alles, was sonst noch Arme und Beine abreißt, entschärft. In zunächst leicht irritierenden, typographisch hervorgehobenen Einschüben bekommen wir Einblick in Fühlen, Denken, Geschichte und Lebensentwürfe der am Gespräch Beteiligten. Ich persönlich bin da nicht der größte Fan von, aber die Einschübe hier fesseln. Sie geben uns in kurzen Schüben ein Bild von dem, was zum Beispiel die US-Army heutzutage ist: Ein Auffangbecken für die Abgehängten, die, die es zu Hause nicht mehr aushalten, die es zu Hause nie schaffen werden und die sich aus ebendiesen ökonomischen und sozialen Zwängen in Situationen begeben, die scheisse-gefährlich sind. Dass das systemisch ist weiss man, aber Markley macht es plastisch. Wie abgefuckt muss eine Gesellschaft sein, Millionen von Menschen die Lebensgrundlage zu entziehen und ihnen dann den Ausweg “Army, Navy oder Marine?” zu geben. Das “Thank You for Your Service.” ohne Zynismus auszusprechen, braucht schauspielerische Leistung.

Von solchen Schlaglichtern auf die US-Amerikanische Gesellschaft lebt das Buch, ja, ist das Buch. Wir lernen die Rekruiterin Shane kennen, sie wird die nächsten Jahre als überarbeitete Kellnerin, alleinerziehend mit Kind im Nirgendwo von New Hampshire leben. Allein diese Schilderungen des amerikanischen Alltags, mit nur 3,5% Arbeitslosenrate ohne dass jemals eine Fußnote dran wäre, die berichtet, dass ein großer Teil der amerikanischen Mindestlohn-Workforce zwei oder mehr Jobs arbeiten um über die Runden zu kommen, was schon wieder beschissen euphemistisch ist, denn sie machen das um zu überleben. Aber Shane macht das freiwillig, trotzdem sie monatlich Geld von einem anonymen Sponsor bekommt. Denn es ist eine Tarnung, deep cover im immer dichteren Überwachungsstaat USA, um aller Jahre Anschläge auf Kohlekraftwerke, Erdölpipelines und was sonst noch die Umwelt verschmutzt, zu begehen. Murdock, der Sprengstoffexperte, wird diese Anschläge materiell vorbereiten, zusammen mit einem Universitätsprofessor, einer Hackerin und einem Banker bilden sie die erste Zelle einer ökoterroristischen Vereinigung, die klar die RAF reminisziert. Jahrzehnte später, hunderte Seiten im Buch, wird Shane nach Virginia fahren, um Allen zu töten, einen der Mitbegründer. Er wollte aussteigen. Es wird der manifeste Verlust der Unschuld sein, die sie emotional und intellektuell schon lange verloren hat. Und sie wird nicht Allen töten. Das machen die erwartbar radikalisierten Mitglieder der zweiten Generation, denen das Credo vom bewaffneten Kampf ohne menschliche Opfer nicht mehr zu vermitteln ist. Aber sie werden übersehen haben, dass Allen einen zwölfjährigen Sohn hat, der bei ihm wohnt. Dieser türmt aus dem ersten Stock des Elternhauses, Shane verfolgt ihn, es gibt keine Alternative, ein Zeuge würde die gesamte, über Jahrzehnte aufgebaute Operation dem Untergang weihen. Die Welt wird untergehen ohne ihr Handeln. Er muss sterben. Shane rennt hinterher und weil sie noch nie eine Waffe auch nur gehalten hat, schießt sie dem Teenager aus versehen in den Bauch. Er schreit wie am Spieß. Und nochmal in den Bauch, und dann erst ins Gesicht. Es bricht uns das Herz.

Von dieser Tragik sind die Geschichten in “The Deluge”. Markley schont uns nicht, denn das ist hier keine Wohlfühlstory mit Happy End, es ist das fucking Ende der Welt.

Wir werden noch viele mehr dieser Haupthelden kennenlernen. Markley malt ein Gemälde der USA zu Beginn des 21. Jahrhunderts bis zu deren absehbarem Ende im Jahr 2040. Wir lernen Matt kennen, in 2017 ist er ein Teenager, der sich in die sexy, freie, kluge und bald telegene radikale Aktivistin Kate verliebt und sie erst Jahrzehnte später erschöpft verlassen wird.

Wir lernen “Keeper” kennen, einen anfangzwanzigjährigen abgehängten weißen Dude aus Ohio, dem Epizentrum des white trash in den USA, mit deindustrialisierten Kleinstädten, deren Industrie, deren Rohstoffextraktion nicht mehr gebraucht wird in einer globalisierten Welt. Wir werden ihn von Drogendeal zu Gefängnisstrafe, von Vergewaltigung (er) zu Vergewaltigung (ihn), von Shit zu Shit verfolgen. Wir werden ihn hassen und bedauern, er wird zu Gott finden und doch kein wirklich guter Mensch werden.

Markleys Buch erzählt uns die Lebensgeschichten von einem halben Dutzend Haupthelden und einem weiteren halben Dutzend handelnder Personen und nimmt sich für jeden und jede soviel Zeit, wie es braucht, um ein Bild von deren Denken und Sein zu malen und von ihrem Handeln im Angesicht der Katastrophe. Jeder hätte ein eigenes Buch, einen eigenen Band verdient, so interessant, prototypisch für das finale amerikanische Jahrhundert sind sie.

Die in langen Kapiteln erzählten Lebenswege kreuzen sich über die Jahrzehnte auf oft unerwartete Art und Weise, halb “Smoke”, halb “Pulp Fiction” oder besser: “Natural Born Killers”. So trifft Jackie, eine Designerin in der Werbeindustrie, erschöpft vom täglichen Anrennen gegen die glass ceiling, in jungen Jahren einen semi-berühmten TV-Schauspieler (ich hab Rob Lowe vorm Auge) um ihn ein Jahrzehnt später als ultrakonservativen VR-Prediger kaum wiederzuerkennen. Der wird später mit Mordaufrufen gegen alles, was kein Kreuz um den Hals hat, um ein Haar Präsident - wie das so passiert in den USA.

Alle diese Stories und Lebenswege sind strange, gewalttätig, haarsträubend und im Kontext des US-amerikanischen Systems 100 % plausibel. Vor dem Horror eskalierender Umweltkatastrophen beschreibt Stephen Markley wie verschiedene Akteure verschiedene Ansätze wählen, das Ende der Welt abzuwenden. Politische pressure groups, selbstorganisierte Initiativen, Graswurzelbewegungen, politische Parteien, “Effektive Altruisten”, Ökoterroristen versuchen mehr oder weniger aufrecht den Klimawandel zu stoppen und scheitern am System, aneinander und daran, dass die Methanfelder auf dem Meeresgrund einen shit geben, ob der Mehrheitsführer im US-Repräsentantenhaus es politisch für einen ungünstigen Zeitpunkt hält eine wirksame Klimagesetzgebung zu verabschieden. Dass die kontinentgroßen Eisschollen an Nord- und Südpol abbrechen und unbeeindruckt in den respektiven Polarmeeren schmelzen, als es menschlich zwar komplett verständlich ist, dass die Klima-RAF nicht mehr an den parlamentarischen Weg glaubt und genau in dem Augenblick aus Versehen die ersten Menschen bei einem Anschlag umkommen, als die Klimagesetzgebung endlich auf dem Weg, ist Realität zu werden. Und dass die Wasservorräte in weiten Teilen der Welt auch dann verdunsten, wenn in Europa, getrieben von der durch Wasserknappheit verursachten Migrationsbewegung, wieder Faschisten an die Macht kommen. Geführt übrigens von einem gewissen Anders Breivik aus Norwegen, gerade aus dem liberalsten Gefängnissystem der Welt entlassen.

Und so stehen wir am Ende des Buches betroffen vor dem Scherbenhaufen unserer (ok, hier speziell und vornehmlich der US-amerikanischen) systemischen Unfähigkeit, ein paar Jahre in die Zukunft zu schauen und zusammenzuarbeiten.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Stephen Markley zu Beginn des Buches noch nicht wusste, wie es endet. Dass er unsicher war, ob er der Story ein Happy End oder wenigstens einen unklaren Ritt in den waldbrandroten Sonnenuntergang geben wird. Ich habe das Gefühl, dass Markley bei der Recherche während des Schreibens so deprimiert und aussichtslos wurde, wie es uns geht, wenn wir sein Buch lesen und dass er es nicht fertig gebracht hat, uns zu belügen.

Aber was machen wir jetzt mit dieser Aussichtslosigkeit?

Nun, so eine Klimakatastrophe ist ja kein Atomschlag, einmal kurz zu hell, dann auf ewig dunkel. Da kommen schon noch ein paar Jahre auf uns zu, in denen es zu feucht, zu trocken, zu heiß ist, mit zu wenig Wasser, nicht genug zu futtern und dann dem falschen. Mit den resultierenden Fluchtbewegungen, physisch vom Heißen ins geradeso nicht so Heiße, vom Trockenen ins Nasse und den mentalen Fluchtbewegungen, von der Gier zur Not zur “Beschaffungskriminalität”, von der Verzweiflung vor dem Elend zum Crystal-Meth-Bliss und dem, was das alles für Deine zweijährige Tochter bedeutet. All diese Dinge sind kaum mehr zu verhindern, aber man kann sie gemeinsam entschärfen, durchleben und vollenden. Hauptwort: gemeinsam. In den finalen Zügen der Umweltkatastrophe im Buch, in denen selbst in den USA der Weizen, der Mais knapp wird wegen Monokultur, zu viel oder zu wenig Wasser, hat eine gar nicht so kleine Anzahl von Kommunen wundersamerweise Obst, Gemüse, Milch und was der Mensch sonst noch so gerne auf dem Frühstückstisch hat. Das sind Kommunen, die entstanden sind, als die Klimakatastrophe in noch Jahre entfernten Horizonten schimmerte und die akuten Probleme in Ohio, Alabama oder New Mexico “soziale Armut”, “Beschaffungskriminalität” und “Kapitalismusdreck” hießen, und schon zu dieser Zeit, irgendwie, sagen wir im Februar 2023, schlossen Leute sich zusammen, besorgten irgendwoher Geld und boten den Abgehängten genau dort, wo sie abgehangen hingen, Lösungen an. Entzugskliniken, gemeinsames Arbeiten für ein gemeinsames Ziel und wenn es nur ein Maisfeld ist, und ein Bier am Abend, wenn die Einsamkeit am größten. Kein Mensch muss da auf die Katastrophen re: Klima warten, die dafür geeigneten gesellschaftlichen sind schon lange da.

Und mit dieser Erkenntnis hat mich das Buch auch radikalisiert. Eine Hauptheldin ragt immer ein bisschen über die anderen heraus: Kate. Eine radikale Feministin, die einen shit gibt auf Konventionen, politische, gesellschaftliche, sexuell, ein anarchischer Firebrand, die der Realität der schwindenen Chancen, das Ende zu verhindern, ins Gesicht schaut und sich (und anderen) sagt: “So what, deshalb muss man ja nicht aufhören!”

Deshalb kann man das System und in ihrer Personifizierung, die fucker, die das alles verursacht haben mit ihrer Gier, ihrer Dummheit, daran erinnern, dass sie nicht allein sind auf der Welt. Absurde Gestalten wie Friedrich Merz, die sich über Jahre ihre Pension beim größten Investmentverein der Welt, und damit zwangsläufig dem größte Klimakiller ebendieser, verdient haben und jetzt am Rednerpult des Bundestags wie ein Klempner aus Heidenau reden, wie jemand, der es nicht besser weiß? Warum soll der nicht jeden morgen keine Luft im Reifen haben? Und Katrin Göring-Eckardt, die es offensichtlich nicht besser weiß und sich dennoch bis zur Vize-Bundestagspräsidentin hochgepeterprinzipt hat - warum soll die nicht jeden Tag aufs neue, von immer einer anderen Mindestlohnbarista in jedes mal einer anderen 7-EUR-Kaffeebar alten Kefir statt Sojamilch in den Latte bekommen? Dafür gibt’s doch Whatsappgruppen? Und wo anfangen mit dem Unsinn, dem man Schwachmaten wie Christian Lindner antun kann, damit sie merken, dass sie keiner, wirklich keiner je leiden konnte?

Rettet das die Erde? Nein. Beschleunigen wir damit das Endstadium des Kapitalismus? Das schaffen die fucker ohne uns. Ist es besser, als sich totzuscrollen und dumm zu tweeten? Allemal. Und für diese Erkenntnis braucht man keine 800 Seiten “The Deluge” von Stephen Markley lesen, aber es schadet nicht und es macht ganz unglaublich Blutdruck und es macht damit die Arterien frei, den Kopf und damit einen selbst.

Deshalb sollte man das Ding lesen. Es ist brillant.

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