Lob und Verriss
Lob und Verriss - Der Podcast
Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt
0:00
-23:44

Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt

Schniedel raus!

Alte weiße Männer können per se nichts für ihren alten weißen Schniedel, aber wofür sie etwas können ist, wenn dieser raushängt, mitten in einer deutschen Talkshow, metaphorisch im Gesicht einer deutschen Journalistin und per Bildfernübertragung damit auch in unserem. So war das äußerst unangenehm geschehen, kürzlich, in der TV-Talkshow “Markus Lanz”. Der Schniedel gehörte Richard David Precht, den wir hier kürzlich noch als “den Perückenträger aus Solingen” milde belächelt hatten. Ein zweiter weißer Schniedel hing, das muss gerechterweise gesagt werden, nur halb raus und gehörte dem frisurtechnischen Nacheiferer Prechts, dem Soziologen Harald Welzer.

Besprochen werden sollte deren gemeinsam geschriebenes Buch “Die vierte Gewalt: Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird – auch wenn sie keine ist”, ein wissenschaftliches Werk, wie gerade Welzer immer wieder betonte. Eingeladen zur kritischen Textanalyse waren zwei Journalistinnen, die im Buch, so wurde schnell klar, wohl selbst wissenschaftlich beleuchtet wurden, Melanie Amann vom “Spiegel” und Robin Alexander von der “Welt”.

Das Buch, nicht nur im Titel ein Frontalangriff auf den Deutschen Journalismus, kam bei den anwesenden Betreibern desselben erwartungsgemäß nicht an und da diese genug Zeit hatten, sich auf die Konfrontation vorzubereiten, sahen die Autoren beide nicht besonders gut aus, zumindest aus der Perspektive dieses unparteiischen Beobachters des Gemetzels. Zwar hatte ich kurz nach der Wende keine Zeitung unter einem Kilogramm Papiergewicht konsumiert, schon weil man in der Mittagspause, die Süddeutsche oder die FAZ auf dem Tisch konzentrierend sein partymüdes Haupt auf diese betten konnte, um ein paar Minuten leise in die Kommentarspalten sabbernd zu ruhen. Aber wann ich das letzte mal ein solches Leitmedium überhaupt in der Hand hatte, geschweige denn darin intensiv gelesen, kann ich wirklich nicht mehr sagen. Es muss ein Jahrzehnt her sein. Aber natürlich bilde ich mich politisch intellektuell, nur halt nicht, wie die Autoren Precht und Welzer das von mir erwarten. Die Einzigen, die damit umzugehen in der Lage schienen, waren die beiden leitmedialen Journalisten. Und während diese ein Argument nach dem anderen aus dem Buch auseinander nahmen und den Buchautoren um die Ohren hieben, zogen sich bei Precht die Hodensäcke in den Unterbauch zurück, die Beine wurden breiter und breiter aufgestellt und mit scharfer Stimme ergoss sich des Intellektuellen Mansplaing in’s Gesicht der Spiegel-Chefredakteurin. Diese lachte ihn aus, Harald Welzer zog sich aufs Wissenschaftliche zurück und Robin Alexander wurde spontan zum Feministen.

Die erste Amtshandlung des Rezensenten muss nun sein, sich von den verstörenden Bildern der Veranstaltung zu reinigen und das Buch als solches zu lesen und zu besprechen. Ich verspreche nichts, aber gebe mir Mühe.

Das Buch beginnt einleitend mit besagtem Frontalangriff auf die deutsche Presse, die sich vom willfährigen Berichterstatter des Regierungshandelns zum politischen Akteur emanzipiert habe. Es wird ein bisschen Verständnis gezeigt: Internet, das sog. Twitter, Kapitalismus. Es wird viel befußnotet, damit man gleich sieht, dass was man hier liest, auch wirklich Wissenschaft ist.

Wir ahnen Schlimmes, doch es folgt das erste Kapitel, das den Begriff “Öffentlichkeit” definiert und angenehm historisch, neutral, sachlich ist und damit offensichtlich geschrieben wurde, als keine aufmüpfigen Frauen im Raum waren. Oder - wahrscheinlicher - von Harald Welzer. Auch hier wird ordentlich befußnotet, wissenschaftliche Quellen wie der “Deutschlandfunk” und die Wochenzeitschrift “Die Zeit” müssen herhalten, weil Wikipedia als Fußnote unwissenschaftlich ist . Das alles, um Zitate zum US-Amerikanischen Herausgeber Hearst zu belegen, einem Kriegstreiber, wie wir lernen. Und wir ahnen, worauf der Kritiker der Waffenlieferungen an die Ukraine abzielt.

Im darauf folgenden Kapitel wird das fehlende Vertrauen des Bürgers ins “System” aufgrund Unterrepräsentanz besagten “Bürgers” im Verhältnis zum “Politiker” in den Leitmedien analysiert. Das passiert, wir hatten es schon befürchtet, anhand der Flüchtlingskrise 2015 und der Coronakrise 2020. Untersucht wird das Ganze mit “inhaltsanalytischen Studien”, also Textanalysen von Veröffentlichungen der “Leitmedien” und der Aufschlüsselung nach darin auftauchenden Themen, Personen, Gesellschaftsschichten. Was Precht und Welzer dabei versuchen herauszufinden ist, ob alle Gesellschaftsschichten in der Berichterstattung zu Wort kommen, und ob diese inhaltlich “ausgewogen” ist, also ob alle öffentlichen Meinungen repräsentiert sind.

Problematisch dabei: Studien von Extremsituationen als Grundlage zur Beweisführung von Thesen zu verwenden ist generell schwierig und speziell in diesem Fall fragwürdig, denn bei den Fragen, die diese beiden “Krisen” aufgeworfen haben, gibt es nun mal anerkannte moralisch-ethische Grundhaltungen in unserem Land, die eben nicht fifty/fifty "Kieken wa ma, was det Volk so denkt!” zu beantworten sind, sondern im Rahmen der Bundesdeutschen Grundordnung schon eindeutig beantwortet sind: “Flüchtlinge aufnehmen Ja!”, sagt das Asylrecht, “Impfen Ja!”, sagt das Infektionsschutzgesetz. Was zu den Themen in den Leitmedien stand, war also recht erwartbar.

Die Haupterkentnis aus den Textanalysen (hier beispielhaft zur Flüchtlingskrise) ist, so das Buch, dass hauptsächlich Politiker zu Wort kamen (zu bis zu 80%), nicht jedoch die Helferinnen oder gar die Betroffenen, also die Flüchtenden. Das klingt dramatisch, ein wirklich kurzes Überlegen kann einen aber darauf bringen, dass in einer unübersichtlichen Situation, einer Krise eben, in der vornehmlich um Ordnung gerungen wird, diejenigen zu Wort kommen, deren Job das praktische Errichten von Ordnung ist. Politiker zum Beispiel. Stattdessen wird beklagt, dass die lokalen Helfer in der Berichterstattung unterrepräsentiert wären und passend zum Ton des ganzen Buches werden gleich mal Parallelen gezogen zu obrigkeitshöriger Wilhelminischer Berichterstattung, no shit. Das Problem ist doch aber: Wie löst man eine nationale Krise? Diese den “Nothelfern” überzuhelfen ist eine Option, aber sinnführender ist es, in einem solchen Fall nationale (und noch besser europäische) Lösungen zu etablieren. Und darüber wurde berichtet. Verrückt.

Hier geht also mit den Autoren der Wunsch nach Sensationalismus durch, sie wählen exakt die nicht repräsentativen Beispiele zur Untersuchung aus und schießen sich damit selbst ins Bein. Wie viel interessanter wäre es, ein medial weniger präsentes Thema zur Textanalyse zu wählen, idealerweise eines, welches nicht in statistisch kaum verwertbaren, minimalen Zeiträumen aufflammt und wieder erlischt. Ich bin sicher, die aufmerksame Leserin unserer gesammelten Rezensionen kommt auf ein paar Ideen.

Und am Ende des Abschnitts zur Inhaltsanalyse “Flüchtlingskrise” merken das die Autoren sogar, Zitat: “Aber könnte es nicht sein, dass die leitmediale Berichterstattung der Presse zur sogenannten Migrationskrise diesbezüglich ein Ausnahmefall war?”. So close. Sie setzen fort: “Schauen wir deshalb auf andere Krisenereignisse und ihre mediale Bearbeitung."

Es folgt also die gleiche Übung zur Coronakrise ohne jeglichen Erkenntnisgewinn: Politiker stehen während einer Krise im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Wer sonst, fragt man sich.

Und weil man auf durchschossenen zwei Knien immer noch irgendwie ins Ziel robben kann, folgt die exakt gleiche Argumentation zur nächsten Krise, der aktuellen, jetzt gleich ganz ohne wissenschaftliche Untersuchungen, weil, ist ja noch im Gange: der Ukrainekrieg. Es lohnt kaum, die gleichen Argumente nochmals zu besprechen, zumal sie diesmal nicht analytisch unterlegt sind. Dass dieses Fehlen einer Analyse das Thema für ein nach wissenschaftlichen Methoden erstelltes Buch ausschließen sollte, ignorieren die beiden Wissenschaftler und so müssen wir ein dutzend Seiten Meinung über uns ergehen lassen, die, wie es Meinungen so an sich haben, teilweise Übereinstimmung erzeugen, hier z. B.: das Fehlen der Berichterstattung in deutschen Medien zur Haltung zum Krieg aus anderen Teilen der Welt. Viele der Meinungen führen jedoch zu entschiedener Ablehnung aufgrund von: Blick auf die fucking Landkarte.

Das nächste Kapitel “The Unmarked Space” greift die Erkenntnisse aus dem vorigen auf und will laut Untertitel extrapolieren, “was Leitmedien nicht thematisieren” und man ist, leicht erschöpft, geneigt hier zum Rotstift zu greifen wie der alte gestrenge Mathelehrer und den Rest des Buches ungelesen wie einen misslungenen mathematischen Beweis durchzustreichen und mit einer 5 zu benoten. Denn wer im ersten Schritt der Beweisführung einen solchen entscheidenden Fehler begeht, wie die beiden Autoren, namentlich Textanalysen nicht repräsentativer Ereignisse für den allgemeinen Erkenntnisgewinn heranzuziehen, begeht etwas, was man in der Philosophie Fallazien nennt, aber da man selbst aus denen noch etwas lernen kann und wir 20 EUR überwiesen haben, nehmen wir die Herausforderung an, das Ding zu Ende zu lesen. Es wird zum Beispiel spannend sein zu sehen, ob der “Fehler” im ersten Schritt nur gemacht wurde um die Thesen wirksamer an den Leser zu verkaufen, die Thesen also trotzdem und im Grunde so vertretbar sind und nur sensationsheischend eingeführt wurden, oder ob die Autoren tatsächlich ihre Integrität als Wissenschaftler aufs Spiel setzen und uns einen großen Wissenschaftsblabla überhelfen, nur um publikumswirksam ihre jeweiligen Lieblingssäue durchs Internet zu ranten, Waffenlieferungen an die Ukraine im Fall Welzer und dass ihn keiner ernst nimmt, den Richard David Precht. Und zugegeben ist das Buch, wenn immer es von Welzer im Erklär- und nicht im Argumentationsmodus (und von Precht gar nicht) geschrieben wird, lesbar und milde interessant.

Wohlan, was also wird von unseren Leitmedien nicht thematisiert? Tipps werden angenommen.

Zunächst setzt sich ein Pattern fort. In den Einleitungen, hier, “was bedeutet Realität in der Medienlandschaft?”, wimmelt es von Fußnoten, die Eindruck machen, in den anschließenden Behauptungen, die die Grundlage für den Beweis der eigenen Thesen legen sollen, fehlen sie plötzlich. Da wird mal eben in einem Nebensatz die Behauptung aufgestellt, dass Informationen, die nur mit großer Mühe, Aufwand und sorgfältiger Recherche zu erlangen sind, immer seltener würden, eine Behauptung, die nach einer Fußnote mit Belegen dafür schreit, aber ohne diese auskommen muss. Vielleicht liegt es daran, dass erkennbar am anprangernden Schreibstil (“erschreckend”, “Vereinseitigung der Perspektive”, “vorauseilender Gehorsam”) der Solinger Intellektuelle P. die Klinge schwingt und sich erwartbar selbst mutiliert. Der Zweck dieser Operation am eigenen Hirn ist ein rant mit dem Tenor, dass Journalisten lieber Feuilleton-Pingpong mit sich selbst spielen denn zu Recherchieren, lieber mit Eliten kuscheln statt sich dem unsichtbaren Teil der Bevölkerung, den Unterschichten und Derlei, zu widmen.

Dabei kommen die Autoren mittelbar zum Thema der engen Vernetzung zwischen Politik und Journalismus und haben dort an sich die richtige Fakten bei der Hand und zitieren auch daraus, hier eine Studie aus 2014, die damals über den Umweg der Satiresendung “Die Anstalt” die Runde machte und die Vernetzung von NATO-nahen Stiftungen und Journalisten wie Joffe und Bittner von der “Zeit” aufdeckten. Wie sich herausstellt, hatte aber Harald Welzer mittlerweile das Worddokument geblockt und kommt, nicht ohne vorherige Absicherung, dass hier keinesfalls ein Lügenpressevorwurf erhoben werden soll (besser ist das) zum erwartbaren Punkt: Waffenlieferungen an die Ukraine.

Louis De Funes Nein, doch, ohhh mit Schildi - YouTube

Dass sich die beiden Autoren ausgerechnet den Ukrainekrieg als Beispiel für verengte Pluralisierung in den Medien vornehmen, ist tragisch. Sie gehen damit in die gleichen Fallen, die sie den kritisierten Medien vorwerfen. In Welzers Fall, als Unterzeichner des “Emmabriefes” gegen die Waffenlieferungen in die Ukraine, nimmt er ein Thema, in welchem er selbst die Öffentlichkeit manipulieren möchte als Beispiel dafür, dass die Medien die Öffentlichkeit manipulieren. Und die Rampensau Precht sagt natürlich “let’s go for it” denn er weiß, wann ihr Buch rauskommt und ist sich sicher, dass zu diesem Zeitpunkt der Krieg noch das Thema No 1 sein wird und damit Medienpräsenz garantiert ist. Das ist tragisch, denn die Vorwürfe der Verengung der medialen Informationsvermittlung sind es wert, dass man ihnen auf den Grund geht, aber, mal abgesehen vom Holocaust, ist jedes Thema geeigneter, das zu diskutieren als ein Krieg, in dem Angreifer und Verteidiger auf einer fucking Landkarte zu erkennen sind.

Das Ende des Kapitels deutet an, welches Mitglied des Autorenduos gleich den Textprozessor beackern darf: mit bestechender Logik schreibt Precht: “Wer in der Politik nicht vorkommt, kommt auch in den Medien nicht vor. Und umgekehrt.” Das stimmt, a) immer, b) wenn doch nicht, dann doch, indem man “zwangsläufig” davor schreibt und c) “Zur Sicherheit machen wir das jetzt kursiv!”.

Es geht also um “Gala-Publizistik”, wie das Kapitel überschrieben ist und jetzt geht’s zur Sache, denn “Politischer Journalismus sei Journalismus über Politiker, weniger über Politik”. Es riecht nach Futterneid und Brusttrommellei und es wird im ersten Absatz klar, wer der andere Gorilla sein soll: Robin Alexander, Chefredakteur der Welt: jemand der so prototypisch wie ein CDU-Wähler aussieht, dass ihm CDU-Politiker wohl immer alles erzählen müssen und der das dann also weitererzählt. Doch wir werden überrascht. Nicht Precht hat beef, der bisher so fundiert schreibende Welzer nimmt sich das Mitglied des FC Schalke 04 Fanclub “Königsblau Berlin” zur Brust, und zwar anhand einer Story, in der Robin Alexander Informationen aus einer CDU/CSU-Fraktionssitzung zuerst auf Twitter veröffentlichte, statt am nächsten Tag in der “Welt”. Das sei ein Skandal, unjournalistisch und ein Beispiel für das Grundübel, weil man in Realtime in die Fraktionssitzung zurück funke, statt hinterher darüber zu berichten und damit Politik beeinflusse. Man dankt als Leser Harald Welzer leise dafür, dass es nicht darum ging, dass er den Alexander nicht leiden kann (ok, wissen wir nicht) sondern, dass er Twitter nicht leiden kann. Das wissen wir genau, weil Harald Welzer kein Twitterprofil hat. Vielleicht hat er Twitter auch einfach nicht verstanden.

Precht übernimmt schnell wieder, schließlich hat er sich die Überschrift des Kapitels ausgedacht. Es folgen freie Assoziationsketten in bildreicher Sprache zum Thema Medien und Politik, die komplett frei von Begründung und komplett zustimmungsfähig sind: Politik wird unipolarer, Politiker unschärfer, Medien lauter. Das ganze unterlegt mit altbekannten (und richtigen) Beispielen aus der Zeit der neunziger und nuller Jahre, wie die Rot-Grünen das gemacht haben, was auch die Schwarz-Gelben gemacht hätten: Kampfeinsätze in Jugoslawien, Dosenpfand und Hartz IV. Kanzlerduelle seien US-Cosplay, polarisierte Wahlkämpfe bringen Einschaltquoten und die bringen Geld, wobei auch hier wieder die Fußnoten mit den Belegen fehlen, angesichts des Autors wohl aus Faulheit, denn wegen fehlender Zahlen, die aber in Deutschland vielleicht nicht ganz so aussagekräftig wären, wie die in den USA, was z.B. die Profite von Spiegel oder RTL in Wahlkampfjahren vs. dazwischen betrifft. Aber es wäre interessant gewesen, das zu vergleichen. Nichts von dem tut weh, nichts von dem macht uns schlauer, aber Precht liest gerne Precht und da müssen wir jetzt alle durch. Was schade ist, weil sich aus diesen Plattitüden und bekannten Weisheiten etwas entwickeln lässt. Dazu muss man natürlich seine Metaphernsucht im Griff haben und vielleicht nicht nur Beispiele aufzählen, die wir alle auch so im TV sehen und die uns alle genauso aufregen, wie z.B. das aufs Wort vorhersagbare Frage- und Antwortspiel zwischen Journalisten und Parteivorsitzenden an Wahlabenden. Da sollte schon mehr kommen, also besser zurück zu Welzer.

Aber: Fuck! Shit! Der hatte 2012 im Fernsehen den TV-Psychologen gegeben und war damals mit einer psychologischen Fernanalyse des amtierenden Bundespräsidenten Christian Wulff zum Medienschaffenden geworden. Autsch. Das muss natürlich proaktiv erwähnt werden, und zwar mit dem wirklich grandiosen humblebrag, dass man nicht wissen könne, ob Welzer damals zum Rücktritt des Bundespräsidenten beigetragen habe. Man sagt “mea culpa” und macht das Beste draus: man bestätigt seine Tätigkeit als Jäger im Fall Wulff und beschreibt, wie man sich so fühlt als Teil der Meute (Zugehörigkeit, Anerkennung, Komplizenschaft) und haut uns damit allen auf den Kopf. Uns allen heißt in dem Fall: uns allen in der “Wahlverwandtschaft” bei Twitter, wenn es uns auf dem Socialmedia-Dienst nicht um Aufklärung oder gar Wahrung des Gemeinwesens vor Schaden gehe (what?), sondern darum, jemanden zur Strecke zu bringen und dafür Beifall zu bekommen. So schreibt das der R.D.P. Oder der H.W. Ja, HW und RDP, so nennen sich die Bros im Buch. Yo.

Zum Glück sind wir in der Twitterfamilie gleich wieder aus der Schusslinie, R.D.P., also der Richard, hält wieder auf seine eigentlichen Feinde, es fallen Worte wie “Enthemmung”, “Moralverlust”, “Anstandsniveau”, “Verunglimpfung” und “Treibjagd”. Das alles explizit auf den deutschen politischen Journalismus bezogen. Unter solchen Substantiven macht es der Precht nicht und wir hoffen im nächsten Kapitel auf Antworten, warum das so ist. Der Titel lässt nichts Gutes hoffen. Er lautet:

Cursorjournalismus

Nicht nur das schwache Kunstwort, auch die ersten Sätze im Kapitel lassen uns wissen, wer jetzt schreibt. Denn es geht um: Waffenlieferungen an die Ukraine. Ok, die Marke ist gesetzt und Harald Welzer gibt uns also einen Abriss über den Unterschied zwischen unrealistischen Verschwörungstheorien (Lügenpresse, Coronaleugner) und der tatsächlichen und durchaus belegbaren Regierungsnähe von Journalisten. Das ist der Stuff, wegen dem wir hier sind. Welzer belegt und beschreibt, ordnet ein und ist auf dem besten Wege uns Erkenntnisgewinn, wenn nicht Lösungen zu präsentieren, und muss doch immer wieder auf den Ukrainekrieg zurückkommen, als hätte er einen alten Aufsatz zum Thema zweitverwertet und mit seinem aktuellen beef befüllt. Das ist, wie schon einige Male im Buch, schade, denn natürlich hat Welzer was zu sagen zum Thema und wäre er nicht so abgelenkt, würde er es tun, wir sind sicher. Und tatsächlich, nach und nach bekommen wir interessante Abrisse aus der bundesdeutschen Geschichte, als man noch wusste, wer journalistisch rechts und wer links stand, kongruent zur Polarisierung der politischen Lager. Seit dem Mauerfall ist nichts mehr links oder rechts und alles strebe zur Mitte und das führe dazu, dass die Medien wichtiger würden. Ok. Warum genau? Welzer wird konkreter und führt, man möchte fast sagen “plötzlich” eine stimmige, bedenkenswerte und gut erklärte Theorie der Medien in einer Zeit hoher Komplexität und geringer Aufmerksamkeitsspanne ein. Ziemlich genau zur Hälfte des Buches sagt mein Kindle. Ich komme mir vor wie ein Bergarbeiter, den Abraum hinter sich, die Silberader im Blick. Leider greift Kumpel Precht zur Hacke und meint, statt uns Welzers gut gefügten Ansichten zu überlassen, brauchen wir jetzt schnelle und rassig formulierte Schlussfolgerungen und begründet mit diesen (mal wieder) seine persönlichen Ansichten, die aktuellen Leitmedien wären eine Meute von Bluthündinnen. Es folgen Absätze mit den folgenden Worten, die immer aktuelle TV- und Pressepublikationen beschreiben: “Jagdfieber”, “Marschtakt”, “über jemanden herfallen”, “Verunglimpfen”, “hysterische Ausgrenzung”. Die Pressemeute erzeuge so ein “Wir”, werde also zur homogenen Massen und Welzer übernimmt gerne die Vorlage und verdächtigt diese der unisono Kriegstreiberei durch das Befürworten von: Waffenlieferungen in die Ukraine. Es ist ein bisschen traurig.

Was Cursorjournalismus eigentlich ist? Es ist zu bescheuert. Und auch irrelevant. Es lohnt kaum die folgenden Kapitel einzeln durchzugehen, auch wenn das verdächtig Precht-faul klingt. Das Pattern ist immer das gleiche: Welzer doziert und befußnotet sozialpsychologisch mäßig interessant auf eine Schlussfolgerung hin, die immer in etwa darauf hinausläuft, dass Journalisten einfach nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Dann übernimmt Precht und denkt sich ein paar scharfe Adjektive und Metaphern aus, um die Schlussfolgerung für den beschränkter vermuteten Teil der Leserschaft nach Hause zu prügeln. Der klopft sich vermutet auf die Schenkel und wirft Facebook an um die saftigen Formulierungen dort reinzuposten, damit Reichweite werde.

 “Der Journaille haben wir’s gezeigt!” denkt Precht privat und formuliert für die Öffentlichkeit seriös um. 

“Worauf habe ich mich bloß eingelassen” denkt Welzer, und versteckt sich öffentlich hinter seiner Wissenschaftlerkarriere und hofft, dass Putin bald den Löffel abgibt und die Öffentlichkeit seine peinlichen intellektuellen Entgleisungen zum Thema vergisst.

Was vom Anfang bis ans Ende des Buches immer und immer wieder erstaunt, ist, wie unreflektiert man sein kann und man fragt sich: ist das, weil oder trotzdem die Autoren sich permanent in die Öffentlichkeit begeben? Sie schreiben: Man wisse ja, dass es unseriös sei, Sätze aus dem Zusammenhang zu reißen, wie das auf diesem Twitter ständig passiere und finden dann ihre Argumente in Reden von Springer-Chef Mathias Döpfner. Man beharrt auf Recherche und dem Schreiben über Dinge, von denen man etwas verstehe und stellt sich dann, wie so ein pickeliger Abiturient in der Berufsberatung, vor, wie Redaktionskonferenzen in großen Tageszeitungen ablaufen, statt mal zu recherchieren, was dort wirklich passiert. Es wird von der ersten Seite an die “Personalisierung der Debatte” angeprangert und man prangert permanent konkret Journalisten an. Es wird erklärt, dass die Journalisten - alle - eine Meute bilden, die sich im groupthink gegenseitig vergewissern und man vergewissert sich permanent in gegenseitiger Zustimmung, das man Recht habe, auch wenn das gar nicht sein kann, weil der eine Autor intellektuell faul und der andere ein anerkannter Wissenschaftler ist.

Die Frage bleibt: musste man sich wegen dieses Buches so entblößt in eine Talkshow setzen und ich denke, wir haben sie beantworten können.

Denn, wer aus Eitelkeit oder Sendungsbewusstsein behauptet, ein wissenschaftliches Werk zu veröffentlichen, welches bei näherer Betrachtung nur ein Vorwand ist, die zwei, drei talking points, die einen gerade beschäftigen, medienwirksam unter die Leute zu bringen und sich als Thema dieses "wissenschaftlichen Werkes” ausgerechnet den Medienbetrieb raussucht um dann zu 100% folgerichtig von den routinierten Samurais ebendieses Medienbetriebes zu Hasché verarbeitet zu werden, hat an sich nur zwei Betriebsmodi, mit denen er in eine wahrscheinlich lange zugesagte Promotalkshow wie die bei Lanz gehen kann. Man kann, wie Welzer, den gelassenen Wissenschaftler geben und milde lächelnd alle anderen für dumm erklären oder, weil man halt keiner ist, wie Precht, die Beine breit machen und mansplained dann den shit aus dem eigenen Unsinn, worauf man beleidigt ist, wenn alle über einen lachen.

Schade ist das vor allem, weil, selbst wenn man das Alter der Autoren hat, und offenbar nicht anders kann, als den deutschen Journalismus auf die Leitmedien zu verengen, es an diesem einiges zu analysieren gibt. Sein Aufstieg und Fall ist faszinierend und wenn man wirklich nicht mit neuen Medien kann, und hier sind nicht nur die “Direktmedien” gemeint, wie Welzer begriffsschafft, was wir Nichtelitären “social media” nennen, hat man locker ein gutes Buch drauf, wenn man wie Precht in diesen Leitmedien lebt und wie Welzer was Richtiges studiert hat. Aber nein, man weiß tief drin, dass es ein ernsthaftes Werk über ein begrenztes Thema fürs eigene Ego nicht mehr bringt, man will Aufmerksamkeit, tappt in die Projektionsfalle und postuliert: Alles Egozentriker außer ich, ich, ich!

Und so sei abschließend die Frage erörtert, die jeder Rezension als Grundlage dienen sollte: für wen ist dieses Buch? Wer könnte sich dafür interessieren, wer wird Genuss beim Lesen empfinden, wer wird sagen “Toll argumentiert!", “Toll formuliert!”?

Nun. Mir fallen eigentlich nur zwei Leserinnengruppen ein: die Fans von Richard David Precht und die Fans von Harald Welzer. Und seit dem schniedelschwingenden Auftritt der beiden Autoren in besagter ZDF TV-Show werden sich diese Gruppen wohl entleert haben, bis nur noch jeweils ein Mitglied übrig war und bei Harald Welzer bin ich mir da nicht so sicher.

0 Comments