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Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung
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Ottessa Moshfegh: Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

Or: How Not To Give a Single Fuck

Es gibt Menschen, die schaffen es mit einer ganz besonderen Leichtigkeit durchs Leben zu gleiten, auf das wir nicht anders können, als sie zu beneiden. Oft sind diese Menschen sehr schön, aber das ist keine Bedingung. Sie sind gerne klug oder wenigstens gebildet, was mir fast ein Hinderungsgrund scheint, aber so sei es. Reichtum oder wenigstens auskömmliche Verhältnisse helfen enorm.

Eine solche Person erzählt uns von ihrem Leben in Ottessa Moshfeghs “Mein Jahr der Ruhe und Entspannung”. Schon der Titel verbreitet selbstbewusstes Wohlgefühl, wüssten wir nicht, dass das nicht sein kann. Wer schreibt schon ein Buch über ein Jahr, in dem es ruhig ist und aus dem man mit ausserordentlicher Fluffigkeit heraus kommt. Ein Konflikt muss her und so ein richtig gründlicher deutscher Leser wird keine Seite dieses ganz hervorragenden Buches lesen können, ohne die Frage aus dem Kopf zu bekommen “Was ist ihr fucking Problem?!”.

“Sie” ist die namenlose Erzählerin, eine bildschöne, weiße New Yorkerin mit genug Geld um nicht wirklich arbeiten zu müssen. Sie ist in ihren Zwanzigern, lebt in einem dieser typischen Upper East Side Appartementhäusern, in dem ein altgoldener Fahrstuhl und ein Portier nicht wirklich etwas mit Glamour zu tun haben, wo das einfach so ist. Sie ist recht kürzlich zur Waise geworden. Ihr Vater ist schon vor einiger Zeit an Krebs gestorben, ihre Mutter hat sich mit Tabletten und Schnaps aus dem Leben geworfen und wir atmen auf. Ein Problem! Wir haben es gefunden! Man kann so reich und schön sein wie man will, ein abgefucktes Elternhaus holt dich wieder runter in unsere abgefuckte Ebene. Gottseidank!

Unsere Erzählerin tut aber gar nicht dergleichen. Sie sitzt in ihrem Apartment und schaut neuklassische Filme auf DVD, Meisterwerke des 80er und 90er-Jahre Unterhaltungs-Kinos, gerne mit Harrison Ford und noch lieber mit Whoopi Goldberg. Sie versorgt sich, wie sich das in New York gehört, mit Lieferdiensten und einem täglichen Gang zur Bodega, den typischen New Yorker Eckläden, in denen es alles gibt - vom Klopapier bis zum Pastramibrötchen. Betrieben wird ihre Bodega von jungen, grimmig dreinschauenden, aber nicht unfreundlichen “Ägyptern”, bei denen sie schlechten Kaffee kauft und die Headlines der Zeitungen in den Regalständern liest. Mehr zum Zeitvertreib und “weil man das so macht” geht sie “Arbeiten”. Sie hat Kunstgeschichte studiert und sitzt ein paar Stunden am Tag am Empfang einer Kunstgalerie, wenn sie sich nicht in den Abstellraum verzieht um zu “nappen”. Denn wenn sie etwas eigentlich liebt, dann ist es das Schlafen!

“Wer will denn die ganze Zeit schlafen?! Da ist doch was nicht in Ordnung! Mit der stimmt doch was nicht!”, weiß der innere Monolog der Lesenden ganz sicher. “Die hat doch ein Problem! Die will dem Leben ENTFLIEHEN!”, haben wir es schon die ganze Zeit gewusst.

Unsere Protagonistin jedoch, klug und selbstreflektiert, erweckt nicht wirklich diesen Anschein. Mit der Ernsthaftigkeit eines Connoisseurs mixt und matcht sie diverse frei verfügbare und verschreibungspflichtige Medikamente um einen perfekten, möglichst langen Schlaf zu erzeugen. Wie sich Rennradjunkies mit immer aufwändigeren technischen und sportphysiologischen Tricks zu immer krasseren Adrenalin- und Endorphinhochs strampeln, bemüht die Erzählerin die pharmakologische Industrie und eine batshit-crazy Psychotherapeutin, die ihr die entsprechenden Rezepte ausstellt, mit nur einem Ziel: einen tiefen, traumlosen Schlaf von vielen Stunden, bevorzugt Tagen, zu erreichen. Wir danken den freiwilligen Pharmajunkies auf wikipedia.com jedesmal, wenn wir die immer verrückter klingenden Medikamentennamen auf dem Kindle antippen und diese uns kurz erklären, was das Wundermittel tut. Dass z.B. Librium oder Noctec tatsächlich Medikationen zur Bekämpfung von Insomnia sind. Alles was der amerikanische Pharmamarkt hergibt, plus ein paar fiktive Pillen, wirft sich die Protagonistin ein, damit es keinen Morgen gibt.

In den immer weniger werdenden Stunden, in denen sie wach ist oder zumindest wach genug, um die Wohnungstür auf zu machen, besucht sie Reva, eine alte Highschoolfreundin, die auch in New York lebt, wenn auch völlig anders: Reva ist die sich ständig als zweite fühlende, von medialen Frauenbildern geprägte, oberflächliche “alte Freundin”, die man nicht mehr los bekommt, weil man sie “schon immer kennt”. Hier findet der Leser Erlösung von der störrischen Erzählerin, die seine Erwartungen nicht erfüllt und selbstzufrieden döst.

Er kann sich jetzt um Reva sorgen! “Reva, wach auf!”, ruft der Leser, was rennt sie wie ein kopfloses Huhn rum und versucht den perfekten Mann, das ideale Gewicht, die fehlerlose Schönheit zu finden? Sie ist doch ein perfekt normales, nicht unkluges Mädel aus der Vorstadt, die ihr Glück schon machen wird. Was sie nicht verdient hat, ist die Verächtlichkeit unserer Protagonistin, die sich von der Vorsorglichkeit ihrer einzigen Freundin einfach nur gestört fühlt auf ihrem Weg aus oder ins Delirium.

Der eher sorglose Leser, der diese Rezension schreibt, stellt sich jedoch, logisch, auf die Seite der Erzählerin. Reva nervt einfach nur. Ständig kommt sie mit billigem Schampus oder Gin an und versucht die endlos lange Nacht zu ihrem belanglosen Tag zu machen. Sie zickt rum, wenn man nicht mitgeht auf ihre hirnlosen Parties um einen hirnlosen Macker abzugreifen, der einem irgendwann den Gang ins Büro erspart und am Ende schläft sie neben einem auf dem Sofa ein, nachdem sie zum zwölften mal erzählt hat, wie toll es war zusammen auf der High School. Und man selbst ist wach! So rum war das nicht gedacht! “No means no!” und wenn jemand zum zwölften mal nicht versteht, dass das alles seinen Sinn hat, was man hier machen will und selbst wenn nicht, geht es die eingebildete beste Freundin einen shit an!

Aber, so reagiert nur der Rezensent. Pharmakologisch oder charakterlich verursacht bleibt die Schlafwandlerin in allen Lagen entspannt und gibt keinen allzu großen fuck. Ihr ist ihre Freundin weder besonders wichtig noch besonders egal. Sie sitzt in ihrem Appartement, schaut Whoopi Goldberg und ob Reva nun da ist oder nicht, es ist ihr wurscht. Denn das ist ihre Superpower: keinen fuck geben. Wie wir in der Studio B Diskussion sehen werden, wird “Mein Jahr der Ruhe und Entspannung” nicht nur im Rezensentinnenkollektiv höchst unterschiedlich rezipiert, von beeindruckter Belustigung bis zur Abscheu ob des Kontrollverlustes, dem sich die Hauptheldin aussetzt, kann man die Story aus vielen Blickwinkeln lesen. Für mich ist es ein Lehrbuch in Gelassenheit. Wer gibt wirklich einen Shit, ob Du im Morgenmantel zum Eckladen gehst. Wie wichtig ist es, mit den richtigen Künstlern zu verkehren statt den “falschen”. Das Leben ist unberechenbar, also versuche es nicht deinen Planungen zu unterwerfen. Aus dieser Perspektive betrachtet wird das Buch zu einem entspannten Lesevergnügen.

Aber das ist nicht die einzige Lesart. Hatte ich erwähnt, dass die Story im Sommer 2000 beginnt? Man überliest es zunächst und wird nur durch die eine oder andere in der Bodega überlesene, im Vergleich zu heute absurd unaufregende historische Schlagzeile daran erinnert. Spätestens im Buchherbst, wenn unsere Protagonistin die harten Pharmacocktails rausholt und die Planungen zu einem mehrmonatigen Schlafmarathon beginnen, schwant einem dann, wann das Jahr der Ruhe und Entspannung enden wird und der immer tiefsinnige deutsche Leser wird seinen Zeigefinger heben und sagen:

“Aha! Eine Parabel! Das letzte Jahr der Ruhe und Entspannung! Denn dann kam der 9. September (Denn der deutsche Leser muss immer allen anderen die einfachsten Dinge erklären, der arrogante Depp.)”

Der eher zur Untiefe neigende Rezensent sagt “Nice trick!”, eine sublime Art und Weise den Leser bei der Stange zu halten ob eines nicht wirklich “deepen” Buchs, das sujetbedingt immer mal wieder zum “Anhalten” neigt. Außer Schlafen, TV und sich nicht mehr erinnern können, was man schlafwandelnd getan hat, passiert nicht viel. Eine Reise in die Vorstadt, zur Beerdigung von Freundin Revas Mutter ist fast schon der Gipfel der Action. Das Buch ist die ideale Vorlage für den indiesten Indiependentfilm, spielend im Jahrzehnt des Indiefilms, den Nuller, aber da eine Filmvorlage vom Leser Phantasie fordert, was nun wirklich nicht zu verlangen ist vom tiefsinnigen deutschen Leser, streusselt Ottessa Moshfeghs dieses gleichzeitig minimale und maximale Target in das Rezipientenhirn: NINE-E-LE-VEN! - Ich habe mich köstlich amüsiert zumal es wirklich nur das ist, eine kleine Fata Morgana in der Wüste der Inaktivität und hätte mir gewünscht, der Roman hätte, nein, noch nicht mal am 10. September 2001 geendet, das wäre ja schon wieder Effekt gewesen, sondern, sagen wir am 3. September. Einfach so. Wie bedeppert hätte der tiefsinnige deutsche Literaturfreund ausgesehen.

Aber wie, und ob dramatisch, “Mein Jahr der Ruhe und Entspannung” endet, lasse ich als minimalen Cliffhanger zusammen mit einer hoffentlich offensichtlich gewordenen Empfehlung dem geneigten Leser zur eigenen Entdeckung in einem der facettenreichsten Bücher seit langem.

Und ich muß nun also zum nächsten Buch von Ottessa Moshfegh greifen, die Frau hat es schwer drauf!

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