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Ottessa Moshfegh: Lapvona
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Ottessa Moshfegh: Lapvona

"Jetzt konnte er sich das Grauen nicht mehr leisten."

Die von mir so gefeierte amerikanische Autorin Ottessa Moshfegh, die 1981 in Boston geboren wurde und persisch-kroatischer Abstammung ist, ist eine Meisterin im Erzählen von Geschichten in denen es oft um menschliche Abgründigkeiten, Süchte, emotionale Störungen, aber auch den Wunsch nach einem besseren Leben, Anerkennung und Emanzipation geht. Diese Geschichten finden mitunter in ungewöhnlichen Settings statt, die auch als Allegorie auf das Erzählte verstanden werden können. In ihrem neuen Roman Lapvona, der bereits letztes Jahr im Original erschien und kürzlich, also Anfang 2023, auch endlich auf Deutsch durch den Hanser Verlag veröffentlicht wurde, bleibt sie sich treu und führt dem Lesenden einmal mehr die Ungeheuerlichkeiten ihrer Protagonisten vor Augen, deren Taten vor Abscheulichkeiten strotzen.

Angesiedelt ist ihr Roman in der fiktiven – und wir vermuten mittelalterlichen – Stadt Lapvona, die gleichfalls titelgebend ist. Zeitlich umfasst die Handlung die Dauer von circa einem Jahr, wobei das Buch in Jahreszeiten gegliedert ist und mit dem Frühling beginnt und endet. Zunächst begegnen wir dem Protagonisten Marek, einem 13-Jährigen, der für sein Alter nicht nur zu klein ist, sondern auch als missgebildet und verwachsen beschrieben wird, mit „knallrote[m] Haar, das noch nie gebürstet oder geschnitten worden war“ (S.13) und seinem Vater, dem Lämmerhirten, Jude. Die beiden leben in einer bescheidenen Hütte auf der Weide und ihr Verhältnis zueinander ist vor allem durch Anteilnahmslosigkeit und Gewalt geprägt, wobei Marek die Schläge, die er durch seinen Vater erhält, als Zeichen seiner Liebe zu ihm deutet. Wohingegen Jude vor allem seine Lämmer liebt und es für ihn das Schlimmste ist, jedes Jahr einen Großteil von ihnen verkaufen zu müssen, die dann geschlachtet werden.

Da Mareks Mutter Agata angeblich nach seiner Geburt gestorben ist, wurde dieser als Baby von Ina gestillt. Diese war früher einmal die Amme des Dorfes und hatte weder einen eigenen Mann noch Kinder, konnte aber Milch geben, weshalb sie das halbe Dorf genährt hatte und damit auch den Frauen und Familien half, die selbst dazu nicht in der Lage waren. Da sie außerdem blind ist, im Wald lebt und sich sehr gut mit Heilkräutern auskennt, wird sie deshalb mitunter auch als Hexe bezeichnet. Im Verlauf des Romans ist sie aber bereits sehr alt und ihre Milch längst versiegt.

Im Gegensatz zu ihnen und den anderen Dorfbewohnern steht der Fürst namens Villiam, der auf seinem Schloss lebt und sich an der harten Arbeit seiner Untergebenen bereichert. Dabei wird er geradezu als Witzfigur beschrieben, der ständig unterhalten und belustigt werden will, sich dabei nicht sehr herrschaftlich benimmt und vom Herrschen zumindest so viel versteht, dass er die Dorfbewohner regelmäßig durch Räuber überfallen lässt und sie damit einschüchtert, damit sie nicht gegen ihn aufbegehren. Dabei wissen die Menschen im Dorf nicht, dass die Überfälle eine Inszenierung ihres Herrschers sind, um die Dorfbewohner klein zu halten.

Während man Marek am Anfang vielleicht noch für den stillen Helden des Romans hält, dessen Leben sich noch zum Besseren wenden könnte, kommt es schließlich durchaus zu einer dramatischen Wendung. Nämlich als Marek mit Jacob, dem Sohn des Fürsten, auf einen Berg steigt, wo er schließlich einen Stein nach ihm wirft und so dessen Tod verursacht. Der Fürst, außerstande die Realität um den Tod seines Sohnes zu begreifen – denn sein ganzes Leben ist ja ein Theater, eine Inszenierung – fordert dafür, dass Marek an dessen Stelle treten und ins Schloss ziehen soll, um fortan als Villiams Sohn dort zu leben. Das dies, entgegen der Erwartung beim Lesen, keinen positiven Effekt auf Mareks Leben hat, sondern, im Gegenteil, noch seine schlechten Seiten zu Tage fördert, wird leider allzu schnell offensichtlich.

Moshfeghs Roman strotzt nur so vor Abscheulichkeiten, die sich in einer endlosen Kette aneinanderreihen. Die Menschen sind voller Missgunst, Neid und Bösartigkeit ihren Mitmenschen gegenüber eingestellt und so hofft man vergebens auf einen Protagonisten oder eine Protagonistin, dem man sein Leserherz schenken kann. Selbst für die geschlagensten Figuren kann man kein Mitleid aufbringen, denn auch ihre niederen Gedanken werden einem schonungslos vor Augen geführt. Dabei scheint es für Ottessa Moshfegh kein Tabu zu geben, das unerwähnt bleiben darf. Es geht um Mord und Kannibalismus, Vergewaltigung und Pädophälie, Unterdrückung, Egoismus, Armut und Überfluss, um hier nur einige zu nennen. Während man in ihren vorangegangenen Romanen immer auch einen gewissen Witz im Grotesken und Überzogenen finden konnte, hat man bei Lapvona permanent das Gefühl, sich durch einen Sumpf an menschlichen Abgründen zu kämpfen, der kein Ende nehmen will.

Dabei spielt auch die Religion immer wieder eine wichtige Rolle. Beispielsweise der Priester Barnabas, dessen Name schon ein Verweis auf seine Bedeutung in der christlichen Religion gibt, der aber im Roman gar keine Ahnung von seinem Amt hat und der an der Seite des Fürsten ein Leben führt, in dem ihm zumindest sein leibliches Wohl garantiert ist. Im Tausch des einen Sohnes für den anderen erkennen wir das Bibelzitat „Auge um Auge“, wobei es im Roman weniger eine Form der Vergeltung zu sein scheint, sondern für Jude eher eine Erleichterung darstellt und für Villiam Teil seines lächerlichen Schauspiels, welches sein Alltag geworden ist. Auch die Lämmer stehen im Allgemeinen für Unschuld und Reinheit, im christlichen Glaube ist das Osterlamm jedoch ein Symbol dafür, dass Jesus unschuldig für die Menschen gestorben ist. Während des langen Dürresommers sterben dann auch alle Lämmer, unschuldig scheint in Lapvona jedoch niemand zu sein. Dabei hat die Religion für jeden eine andere Bedeutung. Während Villiam und der Priester sie dazu nutzen, um die Dorfbewohner in Schach zu halten und Marek sich nichts sehnlicher wünscht, als eines Tages in den Himmel zu kommen, rechtfertigen die Bewohner Lavonas selbst ihr Leid mit ihrem Glauben. Auch das Übernatürliche und Mystische wird durch Ina und ihre Fähigkeiten thematisiert und somit ein breites Feld dessen geschaffen, was Religion für jeden einzelnen bedeutet und inwiefern sie das Leben zu verstehen helfen kann.

„Vielleicht ist es das allergrößte Wunder, wenn Gott Gerechtigkeit walten lässt, ohne dass ein Mensch dafür einen Finger krumm zu machen braucht. Oder vielleicht ist es einfach Schicksal. Im Nachhinein hat alles einen Sinn. Ob wahr oder falsch, man muss sich für alles eine Erklärung zurechtlegen, um irgendwie durchs Leben zu kommen. Worin liegt also hier der Sinn?“ (S.317)

Diese Frage, die der allwissende Erzähler kurz vor Schluss des Romans an den Lesenden selbst zu richten scheint, wirkt wie ein Leitmotiv des gesamten Romans, der durch diese Frage umso mehr einer Parabel gleicht.

Ottessa Moshfegh spricht in ihrem Roman zahlreiche Themen wie Machtmissbrauch, Korruption, extreme klimatische Entwicklungen und deren Folgen oder auch Misshandlung und Vergewaltigung an, denen wir auch in unserer realen Welt gegenüber stehen. Dass sie die Handlung dabei in ein mittelalterliches Setting versetzt, verstehe ich als Hinweis darauf, dass sich auch in unserer Welt Gesellschaften rückschrittlich entwickeln. Die Grausamkeiten, überspitzten Darstellungen und die permanent aufeinander folgenden schockierenden Geschehnisse, mag der ein oder andere als Effekthascherei verstehen und ermüdend empfinden. Ich sehe sie jedoch als das Recht einer Autorin an, den Lesenden mit dem Übel der Welt zu konfrontieren und ihn dazu zu bringen, sich damit auseinanderzusetzen. Viele Erkenntnisse resultieren doch eher aus der Darstellung des Schockierendem denn des Schönem.

Ottessa Moshfeghs neuer Roman ist auf jeden Fall eine Empfehlung, wenn auch keine leichte Kost.

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