Lob und Verriss
Lob und Verriss - Der Podcast
Neal Stephenson: The Diamond Age
0:00
-9:08

Neal Stephenson: The Diamond Age

Studio B Klassiker, zeitlos.
The Diamond Age: Amazon.co.uk: Stephenson, Neal: 9780241953198: Books

Neal Stephensons moderner Klassiker “The Diamond Age”, im Untertitel “A Young Lady's Illustrated Primer” stammt aus dem Jahre 1995, und es war ein großes Vergnügen, ihn für Studio B nach 15 Jahren noch einmal zu lesen.

Die Rezensentin muss gestehen, bei der ersten Lektüre nur ca. 10% des Buches nachvollzogen zu haben, denn schon damals zeigte sich eine der größten Herausforderungen aller Werke von Neal Stephenson, sofern sie nicht in vergangenen Zeiten, sondern wie The Diamond Age in einer zeitlich nicht näher definierten Zukunft angesiedelt sind: entweder ist man mit Visionen des technischen Fortschritts vertraut und besitzt eine hohe visuelle und gesellschaftliche Phantasie, oder ein großer Teil des Buches bleibt im Dunkel, weil der Verstand der Leserin nur Bruchteile fassen, nachvollziehen und einordnen kann.

Da ein Großteil der damals für mich unverständlichen Schilderungen mittlerweile technischer Alltag und vorstellbare - wenn auch noch nicht vollständig umgesetzte - gesellschaftliche Entwicklungsprozesse sind, las sich The Diamond Age diesmal eher wie ein literarischer Kommentar zu einer teilweise realen, teilweise vorstellbaren Zeitgeschichte.

The Diamond Age spielt auf vergangene Zeitalter an, deren kultureller Fortschritt durch die Verwendung, Entdeckung oder -entwicklung von Materialien geprägt war, wir denken hier an die Steinzeit oder auch die Bronzezeit. Jetzt hat sich die Nanotechnologie endgültig durchgesetzt: durch die Möglichkeit, einzelne Atome und Moleküle beliebig zu verbinden, entfällt der Kampf um Rohstoffe, Reichtum wird nicht mehr über deren Besitz erzielt, weil alles einfach hergestellt werden kann. Die Herstellung von Fenstern aus Diamanten ist unvergleichlich preiswerter als die Herstellung aus Glas. Ähnlich unserem Stromnetz werden grundlegende Elemente verteilt, um anschließend mit Hilfe von Feedern Mittel des täglichen Bedarfs zur Verfügung zu stellen. Hunger gibt es also nicht mehr.

Allerdings sind auch die Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, nun eine historische Angelegenheit. Verantwortlich dafür sind neben der Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse unabhängig von Wohlfahrtssystemen, die ausgrenzen, die fehlende Kontrolle der Nationalstaaten über die Geldströme. Ein Staat, der keine Steuern eintreiben kann, hat keine Mittel, um seine Machtinstrumente zu bezahlen. Ersetzt wurden die Staaten durch verschiedene sogenannte Phyles, Zusammenschlüssen von Menschen, vielleicht Stämmen vergleichbar, die sich entweder aufgrund gleicher politischer oder kultureller Überzeugungen organisieren, dabei aber unterschiedliche Zugehörigkeitsvorgaben haben. Eine der mächtigsten Gruppen sind die Neo-Viktorians, die die Nanotechnologie entwickelt haben und die Feeds kontrollieren. Die andere wesentliche Gruppe sind die Han, die die chinesische Kultur nach Konfuzius repräsentieren. Dazu kommt eine Vielzahl anderer Gruppen, die entweder streng geographisch begrenzt, teilweise aber auch weltweit in kleinen Enklaven leben, und deren Beziehungen untereinander durch das Common Economic Protokoll, kurz CEP, geregelt wird. Bezeichnenderweise ist einer der wichtigsten Punkte dieses Protokolls der Schutz des persönlichen Eigentums, während Menschenrechte oder individuelle Rechte, wie z. B. auf Bildung nur innerhalb der verschiedenen Gruppen in verschiedenen Ausprägungen existieren, dafür aber Unterwerfung unter deren jeweilige Paradigmen voraussetzen. Übertragen auf die heutigen globalen Akteure ist das CEP am ehesten mit dem Internationalen Währungsfonds vergleichbar, während die Durchsetzung der Genfer Menschenrechtskonvention, nun ja.

Neben diesen Gruppen gibt es noch die Thete, Menschen, die keinem Stamm zugehörig sind und damit auch keinen geregelten Zugang zu Bildung oder damit verbundenem gesellschaftlichen Aufstieg haben, also arm sind und mit großer Wahrscheinlichkeit arm bleiben werden.

The Diamond Age sammelt eine Vielzahl von Handlungssträngen, Protagonisten und großen Themen, bedient sich dafür innerhalb des Buches unterschiedlicher Stile und ermöglicht verschiedene Lesarten.

Den ungerecht geregelten Zugang zu gesellschaftlichen Gruppen und damit verbundenen Möglichkeiten habe ich bereits kurz angesprochen. Viele der Ereignisse in The Diamond Age beruhen auf den kriminellen Handlungen verschiedener Protagonisten, die sich dadurch ein besseres Leben für sich selbst oder ihre Kinder erhoffen.

John Percival Hackworth, dessen 2. Vorname auf Parzifal, den Ritter auf der Suche nach dem Heiligen Gral verweist, ist ein neoviktorianischer Ingenieur, der den Auftrag erhält, den im Untertitel des Buches erwähnten “A Young Lady's Illustrated Primer” zu entwickeln. Dabei handelt es sich um interaktives Gerät, dessen Geschichten, Erklärungen und Gleichnisse jungen Mädchen die Möglichkeit geben soll, durch die Erziehung mithilfe des Primers - oder auch Fibel - ein interessantes Leben zu führen. Dabei hat der oberste Lord der Neoviktorianer, Lord Finkle-McGraw lediglich ein einziges Exemplar für seine Enkelin vorgesehen. Sein Ziel ist es, seiner Enkeltochter eine gewisse Subversivität zu ermöglichen, weil er den Niedergang seiner Gruppe befürchtet, wenn alle konform den Regeln folgen, damit aber keine Impulse für eine Weiterentwicklung geben können. Ihm ist klar, dass die Weiterentwicklung von Gesellschaften und Gruppen nie gleichförmig nach vorn, sondern sprunghaft, durch Anstöße von Individuen, die abseits des herrschenden Mainstreams handeln, in Gang gebracht wird. Hackworth, der Ingenieur, fertigt jedoch einen 2. Prototypen, den er für seine Tochter Fiona vorgesehen hat, um ihr damit später eine bessere gesellschaftliche Stellung zu ermöglichen. Dieser wird ihm jedoch gestohlen und gelangt so zu Nell, einem 4jährigen Mädchen, das zusammen mit seiner Mutter und ihren wechselnden gewalttätigen Freunden lebt und mithilfe der Fibel lesen und - wichtiger - Denken lernt. Dabei ist die Fibel kein klassisches Buch, sondern funktioniert eher wie ein Computerspiel, bei dem auf verschiedenen Wegen versucht wird, Probleme zu lösen oder eben das nächste Level zu erreichen.

Von der kriminellen Kopie des Primers erfahren 2 weitere Protagonisten: zum einen der bereits erwähnte Lord Finkle McGraw als auch ein mit dem kargen Namen Dr. X ausgestatteter Chinese, der die Technologie des Primers für die Erziehung unzähliger chinesischer Mädchen nutzen will. Der Ausweg aus dem Elend als glücklicher Einzelfall oder als organisierte Revolte.

The Diamond Age verhandelt die unterschiedliche Auffassung von Kulturen und die Basis ihrer Erfolge. So gibt es auch ein längeres Gespräch über die ursprünglichen Viktorianer, deren Erfolg im Zeitalter der Aufklärung auf der Ausbeutung und Kolonialisierung anderer basierte.

Nun ist Information und der Zugang zu ihr, wie seit vielen Jahren propagiert, eine wichtige Voraussetzung für Reichtum. Die Verteilung von Informationen bzw. Modelle dazu sind eine weitere Diskussion: so wollen Hacker, die im Buch die Gruppe CryptNet bilden und die vorrangig im Untergrund agieren, das Verteilsystem über Feeder abschaffen, und stattdessen mithilfe der Seedtechnologie Ressourcen verteilen. Dies steht diametral zur herrschenden Ordnung des Common Economic Protokolls, die den Zusammenbruch und anschließende Anarchie befürchten, wenn jeder selbst herstellen könnte, wonach ihn gelüstet, z. B. Waffen. Widersprochen wird den Bewahrern des Common Economic Protokoll dabei insbesondere von den Mitgliedern der Han-Gruppe, die sich als diszipliniert genug begreifen, da sie nach den Konfuzius zugeschriebenen Regeln leben.

Während im 1. Teil des Buches Personen eingeführt werden und die Handlung in vielen Einzelsträngen, die zunächst nur lose oder gar nicht verbunden erzählt wird, schreibt Neal Stephenson im 2. Teil, der etwas abfällt, mehr über Hintergründe und die teils fiktiven historischen Ereignisse, die zur Gesellschaft geführt haben, in der die Protagonisten leben müssen.

Was kann man Menschen zutrauen, welche Haltung besteht gegenüber der sogenannten “Natur des Menschen” - dies ist eine der zentralen Fragen von The Diamond Age. Dabei schafft Neal Stephenson mit eingestreuten Geschichten aus der Fibel, die durch Nell gesteuert wird, nebenbei noch einen Rückblick auf Technikgeschichte;
erzählt neben den Möglichkeiten der Nanotechnologie von ihren dunklen Seiten - so ermöglicht diese auch die totale Überwachung, da diese nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb von Körpern stattfindet;
berichtet über irre Aussenseiter, die handwerkliche Produkte von Hand herstellen anstatt die Feeder zu nutzen;
untersucht den Einfluss und die Wichtigkeit von einzelnen Personen für die Erziehung von Kindern, also: ist dies eine Aufgabe, die in Zukunft Technologie übernehmen könnte?

Oder anders: den ausgedehnten Zustand des halbherzigen andauernden Krieges, der Gesellschaft genannt wird. Neal Stephensons Wälzer The Diamond Age kann auch mehr als 20 Jahre nach seinem Erscheinen empfohlen werden.

0 Comments