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Anne Tyler: Der Sinn des Ganzen
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Anne Tyler: Der Sinn des Ganzen

Es müssen nicht immer die aufregendsten Geschichten sein, um gut unterhalten zu werden.

Was der Sinn des Ganzen ist, ein Buch, welches in der Originalausgabe den Titel Readhead by the Side of the Road trägt, in deutscher Übersetzung Der Sinn des Ganzen zu nennen, wird sich dem Studio B Kollektiv wohl nie erschließen und wir werden dennoch nicht müde, kopfschüttelnd und fragend ob solcher Titel zurückzubleiben. Die aus Minnesota stammende und in Baltimore lebende Autorin Anne Tyler, welche 1941 geboren wurde, schrieb bereits über 20 Romane und erhielt unter anderem den Pulitzer Preis sowie den Sundy Times Award für ihr Lebenswerk. Ihr Roman Der Sinn des Ganzen wurde 2020, wie auch einige andere ihrer Veröffentlichungen, vom Züricher Verlag Kein & Aber in deutscher Ausgabe herausgegeben.

Wir tauchen ein in das Leben des Protagonisten Micah Mortimer, den die Autorin, passend zu ihrem eigenen Wohnort, in Baltimore ansiedelt. Dort lebt er in einer 3-Zimmer-Souterrainwohnung die eher sparsam eingerichtet – die meisten Möbel befanden sich schon beim Einzug darin – aber dafür sehr gepflegt ist. Denn Micah ist sehr penibel, wenn nicht sogar pingelig in Bezug auf Ordnung und Sauberkeit, was eins der Dinge ist, die ihn ausmachen. Im Klartext heißt das, dass es bei ihm z.B. einen Bodenwischtag gibt, oder auch einen Küchentag, was bedeutet, dass an diesem Tag alle Geräte in der Küche sowie ein Schrank geputzt werden. Diese feste Struktur findet sich auch in seinem Alltag wieder, den er mit Joggen sowie anschließendem Duschen und Frühstück beginnt. Danach widmet er sich seinen Kunden, denn sein überschaubares Gehalt verdient er mit seiner kleinen Computerfirma die den witzigen Namen Tech Eremit trägt. Ein sprachlicher Kniff mit dem die Autorin ihrem Protagonisten nicht nur einen gewissen Humor unterstellt (oder sich über ihn lustig macht), sondern auch die Einsicht des Selbigen ein Dasein in einer gewissen Abgeschiedenheit zu führen. In diesem sehr zurückgezogenen Leben verdient er sich zusätzlich noch etwas als Hausmeister hinzu, indem er Reparaturen und sonstige anfallende Arbeiten in seinem Mietshaus erledigt.

So weit so gut. Es klingt nach einer eher banalen Geschichte die Anne Tyler uns hier erzählt, der Clou besteht jedoch darin, dass sie es schafft, den Lesenden sofort Anteil am Leben ihres Protagonisten nehmen zu lassen. Wie bei einer Serie, die man einmal angefangen hat zu schauen und nicht mehr aufhören kann, möchte man nun wissen, was es mit Micah Mortimers Leben auf sich hat und was ihn bewegt. Doch entgegen des überhaupt ersten Satzes des Romans, der da lautet: „Man wüsste wirklich gern, was im Kopf eines Mannes wie Micah Mortimer vor sich geht.“, erfährt man, was in seinem Kopf vor sich geht. Denn die Autorin lässt uns, zumindest teilweise, daran teilhaben. Und dabei ist sie meisterhaft im Erzählen des Alltäglichen und im Einbringen von immer neuen Handelnden, die letztlich alle ein kleines Rädchen im großen Getriebe bedienen und viele kleine und teilweise witzige Episoden entstehen lassen.

Durch ihren Detailreichtum, die genauen Beobachtungen und auch die Liebe zu ihren Figuren schafft es Anne Tyler die Geschichte eine Mannes zu erzählen, den man als absolut durchschnittlich und prototypisch, ja langweilig bezeichnen würde und die dennoch für den Lesenden nie langweilig wird. Der korrekte Micah, der sich irgendwie in seinem Leben eingerichtet hat und gerade so über die Runden kommt, abgestraft vom Leben, weil er vor vielen Jahren das große Geld hätte machen können – aber kein Patent angemeldet hat – ist aber trotzdem keiner, der sich groß beklagt. Er hat eine Freundin – Cass – die sicher nicht seine große Liebe ist, aber man hat sich arrangiert und schließlich sind es die Gewohnheiten, die Micah so zu schätzen weiß.

Eines Tages steht plötzlich ein junger Mann namens Brink vor Micahs Tür und behauptet sein Sohn zu sein. Brink ist der Sohn von Micahs Jugendliebe und kann rein biologisch gar nicht Micahs Sohn sein, was ihm natürlich sofort klar ist. Dennoch ist Micah dem Jungen gegenüber aufgeschlossen und lässt ihn sogar bei sich übernachten. Man gewinnt den Eindruck, dass er etwas für ihn übrig hat, was einmal mehr deutlich macht, dass Micah nicht der abgestumpfte Computernerd ist, für den man ihn aufgrund des Namens seiner Firma halten könnte. Zu allem Übel macht seine Freundin Cass schließlich auch noch mit ihm Schluss. In relativ kurzer Abfolge lässt Anne Tyler das Leben ihres Protagonisten also aus seiner gewohnten und so liebgewonnen Routine entgleiten. Trotzdem bleibt die Art des Erzählens völlig ruhig, was Micah zu einem Protagonisten macht, der unspektakulärer kaum sein könnte und doch sind er und seine Geschichte alles andere als langweilig.

Anne Tyler hat einmal gesagt: „Das Lesen von Eudora Welty in meiner Kindheit zeigte mir, dass ganz kleine Dinge in Wirklichkeit oft größer sind als die großen Dinge.“ Es ist diese Einsicht, die auch in ihrem Roman stets mitschwingt. Sie erschafft eine Art Prototyp eines Alltagshelden, dessen Leben nicht die große Erfolgsgeschichte ist, sondern der sich Tag für Tag durchbeißt und seiner Arbeit und seinen Gewohnheiten nachgeht. In seiner Höflichkeit ist er fast rührend und er hat so einige Marotten, doch wer hat die nicht. Aber unser Protagonist hat es auch nicht so leicht, weil er in zwischenmenschlichen Dingen schon mal etwas nachlässig ist und sich dadurch auch Konflikte einhandelt, deren Ursache er im Rückblick nicht so recht nachvollziehen kann. Aber man muss ihn einfach gern haben und wünscht ihm die ganze Zeit, dass alles gut werden möge. Es sind die großen Fragen die Anne Tyler in einem, für die breite Masse nachvollziehbaren, Setting ansiedelt und dadurch einen Zugang schafft.

Völlig unaufgeregt und mit viel Einfühlungsvermögen schafft es Anne Tyler einen innerhalb kürzester Zeit in ihren Bann zu ziehen und in das Leben von Micah Mortimer einzutauchen. Im Nu ist ein Nachmittag um und man hat nicht nur Anne Tylers Art zu schreiben lieben gelernt, sondern kann vielleicht auch über die eigenen Macken leichter mit einem Augenzwinkern hinwegsehen, so wie man Micah Mortimer einfach nur alles Gute wünscht. Möglicherweise geht es gar nicht immer um den großen Sinn, sondern einfach das Sein.

In der nächsten Woche stellt Irmgard Lumpini das Buch "Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn gesehen" mit Erzählungen und Kurzgeschichten von Margarete Beutler vor, der überwiegend Erstveröffentlichungen aus ihrem Nachlass enthält.

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