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Achim Wesjohann: Freiheit statt Liberalismus
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Achim Wesjohann: Freiheit statt Liberalismus

Achim Wesjohann hat in einer Serie von Artikeln auf seinem Blog mit dem tragischen Namen "Wesjohanns Worte" hochinteressante Ideen zur Rettung der Demokratie.
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Das Studio B mit dem bedrohlichen Untertitel "Lobpreisung und Verriss" als Podcast & Radiosendung für Literaturkritik gibt es seit erstaunlichen vierzehn Jahren und in zumindest den letzten fünfen hat sich mit dem Team Lumpini/Findeisen/Falschgold eine gewissen Arbeitsteilung herauskristallisiert. Brutal stereotypisierend gesagt, erklärt Irmgard Lumpini an ausgewählten Werken gerne die kleinen und noch lieber die großen politischen Themen, legt die literturstudierte Anne Findeisen in ihren besprochenen Büchern Wert auf ausgewählte Sprache und Herr Falschgold berichtet sporadisch aber unerschütterlich der Hörerschaft von Fantasy und Utopie.

Und so bietet es sich doch an zum Start einer neuen Ära für das Studio B mit wöchentlichen Podcastepisoden, transkribierten Rezensionstexten und Nutzung der up- und coming Plattform substack ein Werk zu besprechen, dessen Autor in feinster Sprache und studierter Rhetorik von einer politischen Phantasie träumt: einer spektrums- und damit parteienübergreifenden Republikanischen Bewegung in Deutschland. Was ein Freak!

Der Freak heißt Achim Wesjohann, ist ein Niedersachse, der in Dresden lebt, sein Geld als Geschäftsführer der Grünen im sächsischen Landtag verdient und mittelalterliche Geschichte und Politik studiert hat. 

Als wir im März letzten Jahres auf einmal alle sehr viel Zeit hatten, nahm er sich diese um in sechs Artikeln Grundlegendes zu Besprechen. Das ganze passierte in Blogform, den Namen des Blogs, "Wesjohanns Worte", erwähnen wir hier einmalig und breiten den Mantel betretenen Schweigens über ihn. Zusammengefasst ergäben die sechs Artikel mit Titeln wie "Freiheit statt Liberalismus", "Republikanismus" oder, oje, "Tugend", ein kleines Bändchen, welches, soviel Lob vorab, die Veröffentlichung in Buchform verdient.

Warum?

Achim Wesjohann beginnt mit einem kurzen, scharf umrissenen Bild von dem, was wir heute "Liberalismus" nennen. Je nach Herkunft und politischer Bewußtwerdung hat jeder seine eigene postive oder negative Haltung zum Wort und füllt es mit seiner eigenen Bedeutung, meist: "Irgendwas mit Freiheit". Klingt total super, ist aber so falsch wie wenig hilfreich, wenn wir alle ein Problem haben, mit dem Liberalismus. 

"Haben wir alle ein Problem mit dem Liberalismus?", fragt der Leser.

"Haben wir.", antwortet Wesjohann.

Zur Beweisführung braucht es ein paar Definitionen, die grundlegendsten ist, das, scheinbar wertneutral, des Liberalismus These ist, dass der größte Nutzen in einer Gesellschaft erreichbar sei, wenn jeder einzelne seine Interessen nur konsequent verfolge. Mein Konjunktiv gibt meine aktuelle Einstellung zu Sache wieder, Wesjohann macht das dankenswerter Weise deutlich professioneller, ohne dass Langeweile aufkommen muss. Zitat: "Der Grundgedanke des Liberalismus ist in seiner Einfachheit so bestechend wie defizitär."

oder "Pluralismus ist unabdingbar, aber die Gleichberechtigung gefühlter Wahrheiten.. ..mit tatsächlich wissenschaftlich fundierten Stellungnahmen erweist sich als eine Entwicklung, die mit Wahrheitsfindung nichts mehr zu tun hat." hört man Wesjohann ein bisschen in sich reinkichern beim Schreiben. Wir erhalten einen fundierten Streifzug durch die Spielarten des Liberalismus in der jüngeren Vergangenheit und jeder zweite Satz ist zitierbar, weil hier jemand schreibt, der scharf formulieren kann ohne auf Effekte setzen zu müssen.

Achim Wesjohann gibt uns damit aber auch Einblicke in sein politisches Seelenleben, was sympathisch ist und der Sache dient, wir lesen hier schließlich keine Dissertation, sondern ein politisches Statement, ja ein Pamphlet, und es hilft ja prinzipiell eines Autors Haltung zur Sache zu kennen, um eine Meinung zu Thema und Text zu entwickeln.

Der Grundkonflikt den Wesjohann mit dem Liberalismus hat, ist, dass sich dieser in den letzten 40 Jahren als "Individualismus over alles" definiert hat, ein in sich geschlossenes Weltbild, wie auch Wesjohann anerkennen muss, welches als Credo hat, alles, was die Interessen des Individuums beschränke, sei einzuschränken. 

Klingt ohne drüber nachzudenken nicht wirklich schlimm, wer mag schon eingeschränkt leben. Darüber nachzudenken lädt uns der Autor jedoch ein und es ist ja auch wirklich nicht schwer:

Wenn wir auf der einen Seite des Freiheitsspektrums aktuell Silicon Valley Milliardäre haben, die mit Plattformen zur freiesten aller Meinungsäußerungen ihr Geld verdienen und auf der anderen Seite diejenigen, die auf diesen Plattformen, total frei, z.B. einen Präsidenten ins Weiße Haus manipulieren, der um ein Haar die ganze schöne Freiheit einkassiert und dass lupenreine Demokraten auf der östlichen Seite des Globus das dazu benutzen, in ihren total demokratischen Staaten die Plattformen zur freiesten Meinungsäußerung zu verbieten, man sieht ja was bei rauskommt, dann muss man nicht groß nachdenken um zu wissen: die Freiheit ist leicht in Gefahr.

Nur, wer meldet sich, sie zu beschützen? Die mit den Plattformen? Die mit dem Geld für die Lobbyarbeit? Die gegen den Mindestlohn, die den Leuten damit drei Jobs abverlangen, bis sie abends vor Erschöpfung nicht mehr denken können? Die gegen öffentlich-rechtliche Medien sind? Also die, die die Massen aus Versehen, absichtlich oder irgendwas dazwischen, zur Manipulationsmasse machen, kurz: Die Liberalen?

"Danke, setzen." sagt Wesjohann und präsentiert uns eine Idee.

Aber, bevor er das tut und weil kein Autor nur von sachlich hergeleiteten Argumenten leben kann, hier: "Liberalismus: gute Idee, leider unpraktisch", lässt Wesjohann in “Freiheit statt Liberalismus II” kurz die Boxhandschuhe weg und das Blut spritzen. Mir ist's Recht und es artet nicht so aus, dass es die fundierten Ansagen des ersten Teils unterminierte. Im Gegenteil zeigt sich schnell, wie Recht man als Autor (und Spaß als Leser) auch mit härteren Aussagen haben kann. Zitat "Die altgriechische Bezeichnung idiotes für Menschen, die sich nur um ihre privaten Angelegenheiten interessieren und sich vom politischem Leben fernhalten, soll nicht wertend gewesen sein, aber die Formel „privat statt Staat“ kann man heute mit Recht idiotisch finden. Von dieser Art Freiheit werden die Reichen immer mehr haben, weil sie sich den Verzicht auf öffentliche Institutionen leisten können. Für alle anderen bedeutet dieser Verzicht das Fehlen von Teilhabemöglichkeiten, also von Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Das ist der (vielleicht nur scheinbar) paradoxe freiheitsbeschränkende Effekt des Liberalismus." Wirkungstreffer, die Runde geht an Wesjohann.

Jetzt aber, im ganz einfach "Republikanismus" überschriebenen dritten Teil, tut der Autor nun Butter bei die Fische, wie man wohl in Niedersachen sagt, was weiß ich schon als Zoni.  Als ein solcher zucke ich zunächst ob des Wortstammes zusammen, waren doch die "Republikaner" in meiner Jugend, kurz nach der Wende in die beigetretenen Gebiete eingezogen, sich mit der, mich schon in der seligen DDR peinigenden zonalen Neonaziszene zu verbünden, um nicht nur Ausländer nicht nur rauszuschmeißen. Wesjohann geht darauf mit keinem Wort ein, dass ist hier ein Text über Republikanismus, nicht über "die Republikaner", also hör' auf zu zucken.

Ok, wir verstehen, es geht um die Republik, die res publica, das Gemeinwesen, demokratisch organisiert. Und obwohl wir ob des Liberalenbashing der ersten beiden Kapitel befürchteten, es gehe um die Republik als Alternative zum Liberalismus, macht uns Wesjohann klar, dass er den Republikanismus, das Gemeinwohl also, als den eigentlichen *Verteitiger* des Liberalismus sieht. Freiheit als Abwesenheit der Unterdrückung durch "Mächtige" funktioniert nur, wenn Du selbst ermächtigt bist und ermächtigt bist Du in einer Republik. Darauf kann man auch selbst kommen.

"Ermächtigung" klingt super, wenn man sie als "Machtteilhabe", also, zumindest einen "Teil Macht haben" umstellt wird es immer reizvoller, wer will nicht wenigstens einen kleinen Teil Macht im Leben. Wenn man sich aber herkömmliche Machthaber anschaut, sind das alles 80h-Arbeitswochentiere und selbst wenn man nur ein klitzekleines Bisschen was zu sagen haben will, muss man eventuell ein paar Abende statt im Biergarten in den Zentralen der republikanischen Macht verbringen. Bürgerrechte sind auch Bürgerpflichten, Frau Bierliebhaberin. Und wenn man schon keine Lust hat im Zentrum der Macht einer Ortsbeiratssitzungen zu sitzen, muss man sich überlegen, ob es nicht gerade derzeit wichtig ist an den Außengrenzen des eigenen Machtbereiches aktiv zu werden. Wie oft zum Beispiel ist der gemeine Biertrinker bei Anti-Pegida-Kundgebungen? Und da fangen wir noch gar nicht an, davon zu reden, was passiert, wenn das Gemeinwesen nicht von innen sondern von Außen bedroht ist. Wehrpflicht, Baby!

Hier purzeln wir vom woken Traum in die Realpolitik. Wesjohann, als Grüner in Sachsen in dieser traumlosen Welt zu Hause, nimmt das entsprechend nicht zum Anlass zu jammern und verzagen, er geht in den Angriff und argumentiert, Achtung, wir kommen zur Grundidee: wenn hier schon so mancher Linke seine Traumwolke verwehen sehen wird, um die Freiheit zu verteidigen, kann man das doch dem Konservativen oder gar dem Liberalen zum Vorbild halten, Opfer in seinen ideologischen Himmelreichen zu bringen und, sich, von mir aus die Nase zuhaltend, mit dem "politischen Gegner" parteiübergreifend republikanisch zu organisieren, gewissermaßen eine Metapartei zu gründen, im Interesse und zum Schutz der Freiheit aller Bürger und damit der Republik. 

Was ein Freak, der Wesjohann.

Und ein mutiger zudem. Kaum hat er den lesenden Progressiven mit "Wehrpflicht" geschockt legt er mit "Patriotismus" nach und schafft es dabei mir argumentativ sowohl die Angst vor ihm ein wenig zu nehmen (vor dem Heimatstolz nicht dem Wesjohann) als auch so manchem interessierten Nationalkonservativen einen kleinen Angstschiss zu bereiten, mit dem sehr schön beiläufigen Fallenlassen eines "Ideal einer Weltrepublik". Ich konnte keine Ironie erkennen und habe mich köstlich amüsiert. 

Und wenn wir alle miteinander schon mal kalt geduscht sind, macht unser Autor gleich weiter mit dem zwangsläufigen Thema "Staatsbürgerschaft". Dort wird es ebenso zwangsläufig sehr schnell eng zwischen zwei  Argumenten: Diese sind auf der einen Seite Zitat, "Wer wählt sollte Bürger*in des Staats.. ..sein" (und mit "sollte" ist eindeutig "muss" gemeint) und, wieder Zitat und sehr mutig, dass "der Zugang zur Staatsbürgerschaft ohne weiteres möglich sein muss". Auf der anderen Seite steht die nicht nur metaphorischen Mauer, die man doch bauen muss um Feinde der Freiheit von einer Republik fern zu halten. Das weiß Wesjohann natürlich und ist groß genug zuzugeben, dass man mit dem Loblied auf die Republik nicht alle deren Unvollkommenheiten lösen kann.

Ob clickbait oder Freude an der Provokation, Teil 5 des Textes müsste wieder mit einer Triggerwarnung versehen werden, denn "Tugend" wird im Allgemeinen in CDU-Parteiprogrammen verortet, nicht in vorwärts gewandten Blogbeiträgen. Ok, wir klicken und atmen erleichtert auf, es war clickbait, Wesjohann erspart uns metaphorische Ausflüge in katholische Mädchenheime und vertieft statt dessen noch einmal den Umstand, dass Freiheit nicht (allein) Besitz sein kann sondern (zwingend) Teilhabemöglichkeit benötigt. Und er geht einen Schritt weiter und zeigt auf, dass es mit der alleinigen Möglichkeit leider nicht getan ist, sorry, no Biergarten today, Ortsbeiratssitzung it is, denn nur wenn Du Dich einbringst, kannst Du verhindern, dass der Biergarten einem Parkplatz weicht. Oder auf lateinisch "et quae, si aequa non est, ne libertas quidem est", aha, der Cicero wird zitiert. Frei übersetzt: "Demokratie, baby!". Glaube ich, Wesjohann hat das schließlich studiert.

Brachte Kapitel 3 argumentativ die Butter bei die Fische kommen zum Schluss die Stampfkartoffeln. Wie wird aus einer republikanischen Idee eine republikanische Tat, eine Bewegung gar? Seit 2010 heißt das "Agenda", so auch dieses Kapitel. Wir versuchen unser Unwohlsein zu verbergen und lesen von einem Demokraten der sichtlich erschöpft ist von der Dummheit des Freiheitstheaters zwischen "Freie Fahrt für freie Bürger" und dem Kampf ums "Zigeunerschnitzel". Wir lesen von einem lebenslang engagierten Autoren, einem der, erstaunlich genug, noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben hat, er wünsche sich eine Versammlung, ein Forum, in dem sich Menschen um einen republikanischen Minimalkonsens herum treffen und endlich wieder etwas substantiell besprechen und dabei noch nicht einmal Antworten finden müssen, sondern zunächst Fragen stellen sollen. Er wirft gleich mal zwei in die Runde, den Patriotismus und die Dienstpflicht an der Gesellschaft. Zugegeben, damit bekommt man ein stattliches Spektrum Menschen mit einer stattlichen Fülle an Argumenten, und so das Ziel, zusammen. Oder auch nicht. 

Wesjohanns Wortbeitrag (ich bitte um sofortige Umbenennung des Blogs) kommt aus der Mitte der Gesellschaft ohne opportunistisch zu sein und ist radikal ohne an den Rändern zu fischen. Er beantwortet bewusst fast keine der von ihm gestellten Fragen, dazu ist er lange genug in der Politik. 

Das hier ist eine Rezension, also sollte die Frage beantwortet werden: "Guter Text?", nicht "Richtiger Text?" Eine Antwort erhält Wesjohann vielleicht mal in einem Essay im Studio P, wie Politik oder Polemik, hier im Studio B, wie Buch, erhält er von mir die Bestätigung, dass es einem alten Kyniker wie dem Herrn Falschgold ein bisschen warum ums Herz geworden ist. Ich war nie Nichtwähler, dazu haben wir uns 89 zu lange auf den Straßen rumgetrieben und, zugegeben, war ich auch nie FDP-Wähler, weil, äcks. Aber eine heftige Portion Verdrossenheit mit der deutschen politischen Umgebung ist schon lange da, ich habe nicht umsonst kein Abo einer deutschen Zeitung, dafür zwei aus dem westlichen Ausland.

Aber das kann sich ändern, wenn Achim Wesjohanns Vision auch nur einen Hauch näher an die Realität rückt. Ich sehe mich nicht im Ortsbeirat, geschweige denn in höchsten Ämtern, aber mal ganz im Ernst: am Ende werde ich Republikaner. 

Bitte reißen Sie diesen Nebensatz jetzt aus dem Zusammenhang.


Nächste Woche geht es Anne Findeisen um eine Autorin, nämlich Marieke Lucas Rijneveld, die viele sicher von der kürzlichen Debatte um die Übersetzung des Gedichtes von Amanda Gorman zur Amtseinführung Joe Bidens kennen. Besprochen wird ihren Roman “Was man sät”.  

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