Studio B Klassiker: Ray Bradbury: The Illustrated Man
Über eine Lebensverändernde literarische Erfahrung.
Die heute übermittelte Rezension stammt aus den Anfangstagen unserer kleinen Literatursendung, aus dem April 2008:
Von Ray Bradbury, dessen hierzulande bekanntestes Werk seine Dystopie "Fahrenheit 451" ist, stelle ich heute als den "Übersehenen Klassiker der Moderne" sein wohl spannendstes Buch vor, "The Illustrated Man".
Vor mehr als 20 Jahren verbrachte meine Familie die Sommerferien am Schweriner See. Wenig ist mir im Gedächtnis geblieben, ein vages Bild vom Zimmer mit 3 Betten; meine Mutter, die meinem großen Bruder die Haare entschlossen und sehr schlecht mit der Nagelschere schneidet, weil ich die richtige Schere versteckt habe, um ihm das Haarekürzen zu ersparen und das seltene Ereignis, dass mein großer Bruder uns vorliest.
Und dies erinnere ich nicht nur, weil es so selten vorkam, sondern weil er von Dingen sprach, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte. Er las Ray Bradbury, "Der illustrierte Mann".
Der Erzähler des Bandes ist auf einer Landstraße unterwegs und und rastet. Ein großer, bulliger Mann trifft auf ihn und fragt, ob er wüsste, wo Arbeit zu finden wäre. Trotz der absurden Hitze trägt er sein Hemd zugeknöpft und mit langem Arm. Unser Erzähler lädt ihn zum Essen ein und wird sogleich gewarnt: "Jeder bereut meine Gesellschaft früher oder später." Und dann zieht er sein Hemd aus und fragt, ob sie immer noch da sind. Ja, das sind sie. Die Illustrationen. Am ganzen Körper bis zu einer blauen Linie um seinen Hals. Wunderbare Tätowierungen, die zuerst jeden faszinieren, aber dann ängstigen, behauptet der Mann. Denn die Bilder erwachen in der Nacht zum Leben und sagen die Zukunft voraus. Niemand möchte lange in seiner Nähe sein, zu schrecklich sind die Geschichten, die nach einiger Zeit in den Bildern sichtbar werden. Doch bevor es soweit ist, werden uns 18 fantastische Geschichten erzählt.
Die erste Illustration erzählt von einer nicht näher datierten Zukunft in einem Haus, das vollständig alle Hausarbeiten der darin lebenden Familie übernommen hat. Es kocht, es badet die Kinder, es putzt sich selbst. Prunkstück des Hauses, das beunruhigend an heutige Prototypen erinnert, ist das Kinderzimmer, das auf Wunsch der Kinder alles darstellen kann, wovon diese träumen. Märchenwelten, Abenteuer, all dies. Die Frau der - wie immer nur auf den ersten Blick - glücklichen Kleinfamilie fühlt sich zunehmend unwohl, seltsame Geräusche dringen aus dem Kinderzimmer. Gemeinsam mit ihrem Gatten sieht sie sich an, was sich ihre Kinder vorstellen: eine Wüste, Löwen, die wohl eine Hyäne verspeisen, und nicht nur die Hitze und der Gestank wirken irritierend real. Sie überredet ihn, ihr "Traumhaus" zu verlassen und in ihr vorheriges Leben in ein normales Haus zurückzukehren. Doch dies wird ihnen nicht gelingen, denn sie haben übersehen, dass Kinder ihre Eltern hassen können. Ihre Kinder wissen die technischen Möglichkeiten des Hauses zu nutzen und verhindern die Pläne der Eltern auf perfide Weise.
Wer nach dieser kurzen Beschreibung in Ray Bradbury einen Technikfeind zu erkennen glaubt, irrt. Er bedient sich großzügig im Fundus, der dem Science Fiction Autor gemeinhin zur Verfügung steht: Raketen, Roboter, Außerirdische, Zeitreisen, menschliches Leben auf dem Mars und die Invasion der Marsianer auf der Erde. Trotzdem wirken die Geschichten nie altbacken, auch wenn einige der Geschichten, damals in der Zukunft angesiedelt, sich nun in unserer Vergangenheit ereignen. Es ist auch müßig zu schauen, welche seiner Fiktionen Wirklichkeit geworden sind und welche nicht. Denn darum geht es ihm nie. Bei Bradbury geht es nicht um die Beschreibung einer bestimmten Technik oder eines bestimmten Ortes, er stellt mit seinen Geschichten immer die ganz großen Fragen: Wie sollen wir leben? Wie sollen wir handeln? Was wird von uns bleiben? Welche Verantwortung tragen wir? Am Ende werden die Personen immer auf auf ihre Handlungen und Haltungen zurückgeworfen. Dabei verzichtet Ray Bradbury in "The Illustrated Man" (in späteren Werken ist dies leider nicht immer der Fall) auf Pathos, trotz der Größe der Themen, die vor Folie der Zeit gelesen werden können, in der sie entstanden.
Die von Bradbury, Jahrgang 1922, in schlichten Worten verfassten kurzen Erzählungen entstanden Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre und handeln nicht nur von seiner Liebe zu Büchern und Imagination, sondern auch von gesellschaftlichen Ängsten und Problemen dieser Zeit, der Angst vor der Atombombe und dem 3. Weltkrieg oder den so genannten Rassenunruhen.
Anders als die Japaner das Trauma der Atombombe bombastisch in Godzilla verarbeiten und fast nie zu einem glücklichen Ende bringen - am Ende ist immer mindestens eine japanische Großstadt kaputt, wenn auch nicht immer durch Godzilla, sondern auch mal durch andere Gegenspieler, zerstört Bradbury in seiner Geschichte "The Other Foot" erst die komplette Erde durch einen Atomkrieg und lässt die wenigen Überlebenden dann doch einen Neubeginn auf dem Mars finden. Dorthin wurde einst die schwarze Bevölkerung verbannt und diese ist nun versucht, sich für die jahrhundertlange Unterdrückung mit der umgekehrten Segregation zu rächen und erkennt gerade noch rechtzeitig, dass sie das tun würden, was sie am meisten hassten.
Wenn es bei Bradburys Geschichten Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang gibt, dann wohl nur auf dem Mars. Wir wissen, dass dorthin noch kein Mensch gelangt ist. Die meisten der kurzen Erzählungen sind Dystopien, in denen die Leser - im Gegensatz zu Utopien - nichts von schönen Aussichten auf eine bessere Zukunft erfahren. Nur durch die Änderung der jetzt-Zeit kann es - oft überhaupt - eine Zukunft geben. Die einzige Hoffnung, die Bradbury lässt ist, dass die Vergangenheit manchmal erst weit in der Zukunft zerstört wird, wenn etwa Edgar Allan Poe gemeinsam mit anderen fantastischen Autoren und all ihren Geschöpfen, mit Hexen, Magiern und dem Weihnachtsmann, die inzwischen auf der Erde verfemt werden und auf dem Mars Zuflucht gefunden haben, einen rasenden Kampf gegen die menschlichen Invasoren führen und doch sterben, weil ihre letzten Bücher verbrannt werden.
Interessant ist der Rückgriff von Ray Bradbury auf den illustrierten Mann, in dessen Körper die Geschichten eingeschrieben sind. Tätowierungen gelten auch heute oft als Stigmata1, die von der Vergangenheit ihres Trägers künden. Hier enthüllen sie die Zukunft. Ein kleiner Hoffnungsfunken, den Bradbury lässt: der Betrachter der Bilder entkommt seinem Tod, den er auf der letzten Tätowierung zu erahnen beginnt und kann uns diese Geschichten erzählen, die wir genießen und die uns gleichzeitig ängstigen und fragend machen.
Es vergingen nach meinem ersten Hören dieser Geschichte einige Jahre, bis ich zum ersten Mal illustrierte Männer und später auch Frauen sah und noch einige Jahre, bis ich selbst anfing, meine Haut illustrieren zu lassen. Noch offen ist die Frage, welche Spuren von mir eingeschrieben werden.2
Mehr als zwanzig Jahre3 nach dem ersten Hören habe ich "The Illustrated Man” , das auch im Deutschen in einer guten Übersetzung vorliegt, im Original gelesen. Es hat nichts von seiner Faszination eingebüßt.
nur noch in bestimmten Ländern und Kulturkreisen und gesellschaftlichen Schichten. Truman Capote, der notierte, dass jeder Tätowierte ein Krimineller sei, würde sich ganz schön umgucken.
Puh, SO würde ich das heute nicht mehr schlussfolgern und schon gar nicht formulieren. Aber gut, es ist ein angestaubter Studio B-Klassiker.
Es sind jetzt weitere 16 Jahre vergangen.