Liebe Leserinnen und Leser,
die Zeit, die wir das letzte Mal wirklich als unsere Zeit empfunden haben, in der es nicht nur viel Schlechtes, sondern auch viel Gutes gab, liegt länger zurück. Zumindest, wenn man Pandemie, Kriege, Hass und Gewalt und zunehmende Kluften nicht einfach hinnehmen oder gar ignorieren kann, wie Bilder oder Gefühle, die man in einer Meditation gehen lässt, oder wenn es einem einfach egal ist.
Ein Bestseller hängt nicht nur an der Werbung, die für ihn gemacht werden kann. Ein großer Name hilft, aber auch nicht unbedingt, wenn nicht jedesmal wieder etwas wenigstens Passables rauskommt. Im letzten September erschien “Holly”, Stephen Kings neuer Roman.
Hauptfigur Holly Gibney erschien schon mehrfach in Kings Romanen, zunächst als Randfigur, diesmal steht sie nun ganz im Mittelpunkt. Sie betreibt eine Privatdetektei, zunächst aber ist erstmal Corona. Stephen King hat nie davor zurückgeschreckt, seinen handelnden Personen starke Überzeugungen mitzugeben, und so ist Holly eine, die die Pandemie ernst nimmt, Maske trägt, und ihre Kippe nicht einfach auf die Straße schmeißt, sondern selbstverständlich einen Taschenaschenbecher dabei hat.
Vielleicht ist dies gerade die erste inkorrekte Interpretation: dass es einer starken Überzeugung bedürfte, in einer Pandemie eine Maske zu tragen, anstatt die Augen zuzukneifen, sich die Ohren zuzuhalten und irre zu kichern und mittendrin laut “Freiheit” zu schreien. Was früher als “gesunder Menschenverstand”1 galt, ist nun Diskussionsstoff, wenn das Gefühl mehr zählt als die Fakten.
Stephen King hat in den letzten Romanen zunehmend offensichtlicher tagesaktuelle politische Ereignisse eingebaut, gesellschaftliche Verwerfungen, die zu immer tieferen Rissen führen, die unsere Welt immer mehr spalten.
Gleichzeitig hat er mit “Holly” eine geradezu klassische Horrorstory geschaffen, die deshalb umso schockierender ist, weil er die menschliche Seite der Verbrecher zeigt, ihren Antriebe, ihre Stellung in der Welt, und die Konsequenzen.
“Holly” vereint eine Vielzahl von Erzählsträngen, einige hochkomplex, einige märchenhaft, voller Überraschungen, die die zunehmende Hoffnungslosigkeit ob der Handlung und gleichzeitig auch unserer Welt, die in ihr gespiegelt wird, ab und zu aufbrechen. Weil ohne Hoffnung alles nichts ist.
Dabei ist “Holly” keine Whodunnit? Geschichte, die Identität der Mörder wird im 1. Kapitel enthüllt. Die große Frage ist: Wird Holly die vermisste Tochter Bonnie ihrer neuen Klientin zeitig genug finden und sie retten und dabei die Täter zur Strecke bringen?
Bei den gesuchten Verbrechern handelt es sich um das emeritierte Professorenehepaar Emily und Roddy Harris, die glauben, den ultimativen Schlüssel gegen das Altern gefunden zu haben und dabei an eines der großen Tabus rühren: sie fangen Menschen und essen sie. Das Ganze passiert nach einem ausgeklügelten System, dass möglichst alle Bestandteile des Körpers der Opfer, also die fleischlichen, verwertet.
Was die Grausamkeit nach oben treibt ist, dass das Verbrechen zwar diese Tabus bricht, aber an vielen Stellen auf Diskussionen in unserer Gesellschaft verweist:
So wurden bis vor einigen Jahrzehnten alte Menschen als ruhebedürftig, als des Ausruhens verdient, betrachtet. Die Forschung der letzten Jahre hat jedoch gezeigt, dass - zumindest wenn man halbwegs gesund leben und alt werden möchte, ein paar Sachen notwendig sind. Ganz oben neben dem Krafttraining steht dabei die Ernährung. Darüber gibt es Netflix-Serien, eine ganze Industrie beschäftigt sich damit, das Altern aufzuhalten, umzukehren, abzuschaffen… Es ist nicht einfach, alt zu werden, und dabei beim abwertenden Blick der Jüngeren auf das Alter (Ageism, klar) entspannt zu reagieren. Aber natürlich müssen die emeritierten Professoren einen Weg finden, für sich selbst ihr Tun zu rechtfertigen. Easy: sie sind einfach besser als die anderen, wissen mehr, und lehnen alles ab, was sich seit ihrer Jugendzeit gesellschaftlich so weiterentwickelt hat.
Und auch das ist eine der Fragen, die in den letzten Jahren immer dringlicher diskutiert werden: kann es sich die Menschheit und unter ihnen insbesondere die Privilegierten leisten, an ihren veralteten Überzeugungen festzuhalten und dabei den Nachkommen (im wahrsten Sinne des Wortes) verbrannte Erde zu hinterlassen?
Und wie wichtig ist es, aktuelle Debatten und Entwicklungen zu verfolgen, sich weiterzuentwickeln, zuzuhören, sich zu ändern, sich nicht an die allererste Stelle zu setzen?2 Oder können die in der Kindheit gelernten Überzeugungen als Entschuldigung herhalten, z. B. für rassistische Einstellungen?3
Stephen King hat “Holly” mit einer Menge Themen vollgepackt, die aber - wenn man sich darauf nicht einlassen möchte - nicht vordergründig verhandelt werden: Sprache, Codes, Lebensansichten. Nur an einer Stelle nervt Stephen King extrem, und zwar, wenn er Holly Raucherin sein lässt, aber spätestens nach 20 Seiten darauf hinweist, dass das WIRKLICH schädlich ist. Das weiß nun wirklich jeder, egal ob Raucherin oder nicht.
Ansonsten: die Macht der Sprache, die Liebe zur Sprache, Respekt - hoffen wir, dass Stephen King auch mit seinem neuen Roman die Welt etwas menschlicher, etwas besser machen möge. Magisch, aber nicht unmöglich.
“gesunder Menschenverstand” wird heute auch nicht mehr so oft gebraucht, weil es zum einen die Perspektive des Sprechers zeigt und oft für konservativ-traditionelle Überzeugungen steht, die mittlerweile, nun ja, widerlegt sind. Und weil “gesund” auch etwas Pathologisierendes hat.
Sehr. Aber das war sicher klar.
Erklärung ja, Entschuldigung nein. Get your shit together.