Liebe Leserinnen und Leser,
Richard Osmans Bücher der "Thursday Murder Club" Reihe wurden ja schon mehrfach empfohlen und dienen seitdem auch als Geschenke für die älteren Mitglieder unserer diversen Familien, weil gute und intelligente Unterhaltung ohne Jugendkult. Ihr Autor ist in Großbritannien auch als TV-Moderator und Produzent bekannt (und äußerst beliebt).
Sein älterer Bruder hingegen, Mat Osman, spielte zu Britpop-Zeiten Bass1 und hat mittlerweile 2 Bücher veröffentlicht.
Sein Werk "The Ghost Theatre" führt uns nach London, das Jahr ist 1601. Shay, einer der Protagonistinnen, flieht vor ihren Verfolgern über die Dächer der Stadt, eine atemberaubende und leicht verwirrende Szene ob ihrer Mischung aus Akrobatik und Traum. Warum wird sie verfolgt? Sie hat in einem Laden Vögel befreit, und das nicht zum ersten Mal. Die Befreiung der Vögel ist ihr inneres Bedürfnis und religiöse Pflicht, denn sie gehört dem Glauben der Aviskultaner an, eine Sekte, die Vögel als Wesen zwischen Himmel und Erde verehrt und aus deren Zügen sich der Lauf der Welt voraussagen lässt.
Auf ihrer Flucht trifft sie Nonesuch, der als Kind entführt wurde und am Theater arbeitet, und zwar für die Blackfriar Boys. Hier mischen sich Fiktion und historische Ereignisse, wenn auch keines der Ereignisse als historisierende Darstellung verstanden werden kann.
"The Ghost Theatre" verwebt sehr lose ein paar historisch verbürgte Fakten (1. dass tatsächlich zu dieser Zeit die Entführung von Kindern, deren Besitz und Einsatz auf den Londoner Theaterbühnen keine Fantasie ist, bis 327. dass die Königin Elisabeth I. eine Vorliebe dafür hatte) mit einer Vielzahl von sich teilweise überschlagenden Ereignissen.
Wir finden eine Vielzahl farbenreicher Beschreibungen des Lebens in der Londoner Unterwelt, zarte Liebesgeschichten, Gewalt, Missbrauch und die Faszination des Theaters und Glaubens - und Betrug.
Shay, Nonesuch und die anderen Jungen im Theater bewegen sich fast mühelos durch die unterschiedlichen Schichten der Stadt, sind aber auch immer wieder Gefahren ausgesetzt - beides durch ihre Zugehörigkeit zum Theater, zum anderen durch religiöse Macht, die Shay zugesprochen wird, wenn sie in Trance gerät. Die Pest lauert, es wird gekämpft, und selbst Queen Elizabeth hat einen kurzen Auftritt, der folgenreich gerät. Es ist aber gar nicht so sehr die Handlung, sondern die Sprache Osmans, die überraschende Bilder und Wendungen zaubert und einen an die Lektüre bindet.
Die deutsche Übersetzung "Das Vogelmädchen" möchte wahrscheinlich das Werk vor der Horrorecke bewahren, in die es aufgrund seines Titels gekommen wäre. Was natürlich Quatsch ist, weil Leserinnen und Leser ja genau das tun: sie lesen ein Buch an, bevor sie es tatsächlich ausleihen, kaufen oder es sich schenken lassen.
Mir hat "The Ghost Theatre" eine Magie des Lesens zurückgegeben, in der man mit staunenden großen Augen die aufregende Erzählung einatmet, sich dabei verschluckt, und während man sich das Glas Wasser in der Küche holt, einfach weiter liest. Unbedingte Empfehlung.