Gerade zu Pandemiezeiten gab es eine kurze Zeit, in der das Kalsarikännit als Mittel der Resilienz zu internationalen Ehren kam.
Für diejenigen, denen damals nicht der fehlende Barbesuch ins Herz schnitt und die vielleicht deshalb nicht im Bilde sind: Kalsarikännit ist das finnische Wort dafür, sich "alleine zu Hause in Unterhosen zu betrinken."
Die Interpretationen dieses Verhaltens sind vielfältig, und reichen von tiefer Traurigkeit über die eigentlich intendierte Entspannungstechnik bis hin zur Überzeugung, dass genau dieses Alleine-zu-Hause-einen-Draufmachen
1. ein probates Mittel im Kampf gegen den Optimierungswahn des Kapitalismus und
2. der Grund dafür sei, warum Finnland jedes Jahr zuverlässig unter den glücklichsten Ländern auftaucht, auch wenn dort nicht so oft die Sonne scheint.
Die alten Griechen kamen zum selben Schluss und erfanden damals das Symposium: ein geselliges Gelage, bei dem die alkoholischen Substanzen dazu genutzt werden, neue Gedanken zu beflügeln und über den Rausch zu Erkenntnissen zu gelangen.
Das soll aber nicht über den Vollsuff geschehen, sondern über die Anregung, sprich, da ist der möglichen Hemmungslosigkeit des Kalsarikännit das Maß des Trinkens vorangestellt. Viele von uns erinnern sich sicher an Abende, an denen unter Rauschmitteleinfluss die interessantesten Gespräche ever stattfanden und der Plan zur Weltenrettung vollendet wurde, nur um sich am nächsten Morgen nicht mehr daran erinnern zu können, WIE das geschehen sollte, sondern nur noch DASS. Vielleicht ist das Kalsarikännit einfach die wahrhaftigere Variante des Symposiums, weil es gar nicht vorgaukelt, Erkenntnisse zu erlangen, sondern einfach mal Fünfe gerade sein zu lassen. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass Belästigungen anderer nicht vorgesehen sind, weshalb hierzulande weder die Entspannung oder die Erkenntnis Teil der alkoholischen Erfahrungswelt sind.
Nun können wir wieder die Bars unseres Vertrauens aufsuchen, und trotzdem ist es anders als vorher. Denn entweder sind sie geschlossen. Oder man darf nicht mehr rauchen. Oder es ist eh alles zu teuer.
Das bringt uns zum Kalsarikännit zurück.
Vom Verschwinden bedroht ist auch das Handwerk. Seit Jahrzehnten.
In der Pandemie konnten immerhin die haushaltnahen Handwerker das Geschäft ihres Lebens beginnen, denn seitdem sind sie gefragt wie nie und immer ausgebucht.
Vom Handwerk sind viele fasziniert, können aber oft wenig, und auch der Werkunterricht für die ganz Kleinen unter uns hat wenigen geholfen. Da hatte man zwar am Ende einen Schraubstock fertig gefeilt, konnte aber mit seinen Händen immer noch wenig anfangen und sich noch weniger eine Karriere beim Feilen vorstellen.
Umso größer ist die Faszination Leuten zuzuschauen, die mit Ihren Händen und Körpern etwas richtig Gutes und Schönes herstellen können (Nur damit wir uns nicht falsch verstehen: ein Schraubstock erfüllt beide Kriterien: er ist gut und schön!).
Hier seht ihr ein Video zur Herstellung japanischer Teedosen, das in mir - und damit vielleicht auch euch - ein wundersames Gleichgewicht zwischen Anregung und Entspannung herstellt.
Dieses Gefühl lässt sich aber auch reproduzieren, wenn man in die Bar seines Vertrauens geht und einer Barkeeperin zuschaut, die die ihr übertragenen Aufgaben meisterlich erfüllt.
Gleichmäßig und präzise wird das Bier gezapft, eine zauberhafte Krone ziert jedes Glas. Unentschlossene Gäste werden beraten, Alkohol wird den Drinks großzügig, aber nie übertrieben zugegeben.
Am bemerkenswertesten ist wahrscheinlich das stets gleichbleibende Tempo: schnell, aber nie gehetzt. Hier muss man als Gast nie befürchten, zur Last zu fallen, weil man neue Aufgaben stellt. Nur leichte Bewegungen, nichts sie schwer aus. Nach jedem Drink wird sofort jede Flasche und jedes Utensil an seinen Platz zurück geräumt und die Platte abgewischt und das Poliertuch wieder aufgehangen. Nie bleibt etwas stehen, nur weil es in der jahrelangen Erfahrung voraussichtlich noch viele weitere Male am selben Abend erneut benötigt wird.
Für bestimmte Getränke werden diverse Gerätschaften benötigt, die bestimmte Griffe erfordern. Nie wird gezögert um ein Überlegen anzuzeigen, jeder Handgriff wurde im Laufe der Jahre auf das effizienteste Maß reduziert. Nach dem Mixen werden die Blicke prüfend auf die Inhalte gelenkt: stimmt das Maß? die Konsistenz? die Farbe?
Die Interaktionen mit den Gästen folgen stets dem selben Ablauf: nach der Bestellung erfolgt die Kasseneingabe, dann wird das Getränk herausgegeben. Beim Gang durch den Raum werden mehrere Bestellungen aufgenommen, aber wenn ein Drink gemixt wird, wird dieser Vorgang nicht unterbrochen.
Doch nicht nur diese Vorgänge folgen einem Muster. Wenn alle ihre Getränke haben, wird saubergemacht. Wenn neue Drinks erfragt werden, werden diese Vorgänge nach hinten geschoben.
Nur wenn alles abgewaschen ist, niemand neue Getränke erfragt und sich keine Aufgabe aufdrängt, gibt es eine kurze Pause, die Arme in die Seite gestemmt, vielleicht wird kurz der Musik gelauscht.
Die Barkeeperin scheint bei allem was sie tut fast organisch mit der Bar verwachsen, so dass unklar ist, ob die Bar nach ihren Vorstellungen gewachsen und eingerichtet wurde oder ob sie sich im Laufe der Jahre perfekt eingerichtet hat.
Das Beste daran ist, dass sich diese Art des Umgangs mit Aufgaben auch beruhigend auf einen selbst überträgt - wie wenn eine Person langsam atmet, sich auch die Atmung der anderen Person entschleunigt.
Wer sich nicht so glücklich schätzen darf jemanden zu kennen, dem man bei dieser Meisterschaft zuschauen kann, für den ist dieses Video, bei dem die Fahrradherstellung in einer japanischen Manufaktur gezeigt wird:
Und ganz am Schluss noch eine Empfehlung für eine schöne Quelle derartiger Videos: https://www.kraftfuttermischwerk.de/blogg/
Habt einen schönen Sonntag!
Sehr schön beobachtet und sehr schön be - geschrieben ! Hätte ich diesen Artikel in einer Bar meines Vertauens gelesen, den Umstehenden wäre sofort klar gewesen, aufgrund meiner nach oben gezogenen Mundwinkel, des sich schüttelnden Körpers, der Typ macht eine Lach-Meditation.