Liebe Leserinnen und Leser,
Im November des letzten Jahres ging es nach Helsinki. Nun ist es vielleicht keine intuitive Handlung, in einem Monat, in dem sich die Sonne verbirgt, an einen Ort zu fahren, an dem die Tage noch kürzer sind als hierzulande.
Grüße an der Stelle an True Detective: Night Country. Dort wird es ab kurz vor Weihnachten gar nicht mehr hell und das Grauen ist groß.
Nun gibt es über Finnland (wie über jedes Land) bestimmte Vorstellungen, die von den Informationen geprägt sind, die leicht zugänglich sind. In diesem Fall ist dies das Kino: Aki Kaurismäki, im letzten Jahr dann Sisu. Klar, dass das nicht korrekt sein kann, und nur, weil ICH etwas seltsam finde, ist es das natürlich gar nicht.
Die Ankunft in Helsinki war: warm. Bestimmt erinnern sich hier noch einige an die Diskussionen um die Wärmepumpen, in Finnland werden knapp 70% damit geheizt.
Was geht dem Betreten einer Wohnung voraus? Schuhe aus? Sicher, aber erst, wenn die Haustür und dann die Wohnungstür geöffnet ist. Alles, was ich über das Öffnen von Türen gelernt habe, stellt sich als unbrauchbar heraus: das Drehen des Schlüssels weg vom Türrahmen bringt nicht das gewünschte Ergebnis. Ein Wahnsinn, an den man sich schnell gewöhnt, dann aber zurück sehr viel länger braucht um sich wieder umzugewöhnen. Und man lernt, dass das Aufschließen von Türen weder intuitiv ist noch das die Erklärung des Wegbewegens des Riegels weg vom Türrahmen alleine korrekt wäre.
Es ist weniger kalt in Helsinki als vermutet, aber - und das ist die größte Überraschung für mich - überall ist es sehr gut geheizt. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass die Leute sehr gut abgehärtet sind und sagen “höhö, 0° machen mir gar nichts, erst bei -5° Celsius schmeißen wir die Heizung an. Bis dahin helfen unsere selbstgestrickten Wolljacken.”
Nichts davon ist wahr. Überall ist es mollig warm. Und:
Alle tragen Handschuhe, dabei sind noch nicht einmal Minusgrade. Nur Touristen (wie wir) tragen keine Handschuhe. Ich traue mich nicht jemanden anzuhalten und danach zu fragen. Falls jemand von euch jemals im November dort ist und es hinterher berichten kann, nur zu! Es werden Vermutungen angestellt: vielleicht gab es schon im Oktober ein paar eisige Tage und dann werden bis zum Frühjahr die Handschuhe nicht mehr ausgezogen? Oder hängt das an einem Stichtag? Sehr sehr unklar. Und obwohl alle Handschuhe tragen:
Laufen alle extrem schnell. In Helsinki wird wie in New York City über die Gehwege gerast. Dabei ist weder erkennbar, wohin es geht, noch macht es den Eindruck, als ob alle grade zu spät kommen würden (also gehetzt sind) oder das aus gesundheitlich-sportlichen Zwecken machen würden. Es ist nicht offensichtlich und: anders als in New York City, wo man Wut oder gar Verachtung auf sich zieht, wenn man einfach ein bisschen herumtrödeln möchte, wird dies einfach akzeptiert.
Und: architektonisch gibt es 2 vorherrschende Stile: Warum wurden die Häuser in Helsinki entweder zwischen 1920 und 30 gebaut oder nach 1990? Diese Frage zeigt natürlich exemplarisch die Unwissenheit / Ignoranz der Verfasserin. Zum einen wurde Helsinki 1917 zur Hauptstadt des nun unabhängigen Finnlands, zum anderen wurden durch verschiedene Vergrößerungen der Stadt immer mal wieder Baubooms ausgelöst.
Unabhängig vom Stil der Häuser gibt es in allen Wohnungen und Gaststätten: Bidets. Und wenn es der Platz nicht hergibt, dann gibt es eine Bidetbrause. Es ist ein bisschen so, als ob sich Finnland ein bisschen die guten Sachen der Welt herausgesucht hat. Vor Jahren hatte ich mal einen Artikel von einer Iranerin im Exil gelesen, der es absolut unverständlich und ein großes Grauen war, dass ein Bidet nicht überall zur Grundausstattung gehört.
Eine richtig gute Sache: Finnland hat sich 2007 das Ziel gesetzt, in 20 Jahren die Obdachlosigkeit abzuschaffen, und zwar mit dem Konzept “Housing First”. Kurz beschrieben: Obdach- und Wohnungslose bekommen eine Wohnung, unabhängig von Arbeitslosigkeit, und psychischen oder Suchtproblemen. Diese Problematiken werden angegangen, wenn es ein Dach über dem Kopf gibt. Hierzulande gibt es Modellprojekte, in denen mal prüfen möchte, ob das funktioniert. Finnland hingegen setzte darauf, das immer wieder gescheiterte Projekt der Notunterkünfte abzuschaffen.
Dafür bezahlt Finnland sehr viel Geld, aber Überraschung: am Ende sind diese großen Investitionen geringer als die Gelder, die für die Folgekosten der Obdachlosigkeit von vielen aufgebracht werden müssen.
Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine sah sich Finnland - bis dahin immer ein “neutraler” Staat - motiviert, Nato-Mitglied zu werden und propagiert nun ein neues Hobby für seine Einwohner: Finnland plant, mehr als 300 neue Schießstände zu eröffnen. Um das ein wenig in Relation zu setzen: Während es zur Zeit ca. 700 gibt, waren es um die Jahrtausendwende noch 2000.
Habt noch einen schönen Sonntag! Hyvästi!