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Siri Hustvedt: Die Illusion der Gewissheit
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Siri Hustvedt: Die Illusion der Gewissheit

Ein Studio B Klassiker
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Was macht eigentlich Siri Hustvedt? Schon seit längerem ist sie meiner Aufmerksamkeit entgangen und nur durch Zufall bekam ich mit, dass sie bereits im letzten Jahr ein neues Werk veröffentlicht hat, das den Titel Mütter, Väter, Täter trägt und eine Sammlung von Essays beinhaltet. Bevor ich dieses in meiner nächsten Rezension besprechen möchte, gibt es heute als Studio B Klassiker eine Rezension aus dem Jahr 2018, in der ich mich ebenfalls mit Siri Hustvedt und ihrem Essayband Die Illusion der Gewissheit befasse.

Es gibt eine Vielzahl an Sprichwörtern und vor allem Redensarten, die aus unserem täglichen Sprachgebrauch zwar nicht mehr wegzudenken sind, von denen wir uns aber längst nicht mehr die Mühe machen, sie zu hinterfragen oder zu verstehen, worin deren Sinn liegt. Das kann einem schon ganz schön auf den Geist gehen, es sei denn, man hat plötzlich einen Geistesblitz. Was ich damit sagen will? Dass sich Siri Hustvedts kürzlich im Rowohlt Verlag erschienener Essay Die Illusion der Gewissheit, oder The Delusions of Certainty, wie er im englischen Original heißt, genau mit diesem Thema befasst. Nämlich der Frage nach dem Geist. Was hat es mit diesem Begriff, den wir so leichthin benutzen, auf sich? Und was verstehen wir eigentlich unter Geist bzw. was ist die Beziehung zwischen Geist und Körper?

Die Frage ist nicht neu, doch für Siri Hustvedt viel zu spannend, um sich nicht mit ihr zu beschäftigen. Dies tut sie, indem sie dem Leser bekannte Fragestellungen und Theorien vorstellt und sich auf verschiedene Fachbereiche wie Genetik, Psychologie, Sprache oder die Evolutionstheorie bezieht. Sehr gut recherchiert und stets mit Beispielen und Gegenbeispielen belegt, führt sie dem Leser vor, wie Annahmen einfach über die Jahre hinweg übernommen wurden, ohne hinterfragt zu werden und damit eine gewisse Allgemeingültigkeit erlangt haben, was sie für die meisten Menschen über jeden Zweifel erhebt. Doch Siri Hustvedt will „für den Zweifel und die Vieldeutigkeit plädieren, und zwar nicht etwa, weil wir nichts wissen können, sondern weil wir unsere Überzeugung stets prüfen sollten und hinterfragen, woher sie kommen.“ (S. 30)

Ein zentraler Aspekt ihres Essays ist die Unterscheidung zwischen angeborenen und erworbenen Eigenschaften, kurz gesagt: Natur versus Kultur. Unter ihrem Gliederungspunkt „Frauen können keine Physik“, wird, wie auch im restlichen Essay, deutlich, welch große Rolle auch der Feminismus in ihrem Werk spielt. Es geht dabei um die immer wiederkehrende Behauptung, dass Frauen Männern von Natur aus unterlegen sind und angeblich, aufgrund ihrer Biologie, in einigen Bereichen schlechter sind als diese – anhand des Untertitels wird deutlich, auf welche Bereiche sie hier anspielt. Um dies zu widerlegen, wird sie nicht müde, die verschiedensten Studien ins Feld zu führen, die sowohl für als auch gegen diese Tatsache sprechen und wie diese unterschiedlichen Ergebnisse zustande kommen. Und es ist wunderbar einfach zu verstehen, wenn man sich nur einmal kurz die Zeit nimmt, darüber nachzudenken.

Ein weiteres, kurzes Beispiel dafür, womit sich ihr Essay auseinandersetzt, ist die Frage, wie sehr ein Wunsch körperliche Auswirkungen mit sich bringen kann. Deutlich gemacht wird dies anhand der Scheinschwangerschaft. Die Vorstellung, schwanger zu sein, kann durchaus sichtbare und objektiv nachweisbare Schwangerschaftsmerkmale erzeugen. Dabei ist aber nicht die Frage, ob der Wunsch nach der Schwangerschaft zu Veränderungen des Hormonspiegels führt, sondern vielmehr, wie stark der Inhalt dieses Wunsches, also dieses Gedanken, den unser Geist produziert, sein kann, dass er zu physischen Auswirkungen führt. Hierzu ein Zitat:

„Wie können Vorstellungen, Überzeugungen, Wünsche und Ängste den Körper verändern? Steht der Geist über der Materie? Haben wir es hier mit einem Zusammenspiel von psychologischen und physiologischen Faktoren zu tun? Wenn man die Tatsache akzeptiert, dass Vorstellungen Körper verändern können, was hat das dann im Hinblick auf das Körper-Geist-Problem zu bedeuten?“ (S. 134)

Hustvedt verweist darauf, dass es eine Lücke zwischen Körper und Geist gibt, die der Grund dafür ist, dass wir zwar das Gehirn mit all seinen Synapsen, Neuronen und chemischen Eigenschaften irgendwann in Gänze erklären können, doch es bleibt die Frage, wie sinnvoll es ist, Dinge wie gerade genannte Wünsche, aber auch Hoffnungen, Träume und Gedanken ausschließlich als neuronale Prozesse zu bezeichnen?

Was ist nun also die Illusion der Gewissheit? Ich denke, die Frage ist gleichzeitig die Antwort. Es wird immer Dinge geben, die für uns Menschen nicht greifbar sind: Was ist der Geist? Was ist der Verstand und wie unterscheidet er sich vom Körper? Und es gibt die Illusion, dass wir diese Frage mit Gewissheit beantworten können. Das wirklich interessante ist aber, zumindest für mich, die Frage und nicht ihre Antwort. Denn solange es Menschen gibt, werden diese sich wohl mit dieser Thematik beschäftigen und genau dieses – sich-damit-beschäftigen – treibt uns an und bringt uns voran. Genau das ist auch das Wundervolle an Siri Hustvedts Essay. Sie regt uns an und fordert uns auf, Dinge nicht als gegeben und feststehend hinzunehmen, sondern zu hinterfragen. Dabei räumt sie, für mein Empfinden, manchmal fast etwas wütend mit gängigen Vorurteilen und deren Erschaffern auf.

Wer Die Illusion der Gewissheit auf deutsch liest, dem sei gesagt, dass die studierte Literatur- und Sprachwissenschaftlerin (also eine Geisteswissenschaftlerin, haha) Bettina Seifried hier eine großartige Übersetzung geleistet hat. Die Gliederung des Essays hätte, für meinen Geschmack, hier und da noch etwas gebündelter sein können. Nichts desto trotz ist der Text sehr verständlich und hält sich nicht damit auf, sich einer allzu wissenschaftlichen Sprache zu bedienen. Eine sehr geistreiche Arbeit und absolut empfehlenswert.

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