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Rosie Price: Der rote Faden
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Rosie Price: Der rote Faden

„Eine Erinnerung, ist das, was zurück bleibt, wenn etwas geschieht und dann nicht vollkommen ungeschehen gemacht wird.“ Edward de Bono

„Je mehr Leichtigkeit und freudige Momente man hat, desto dunkler kann man gehen.“ Das ist ein Gedanke bzw. eine Idee, die Rosie Price beeinflusst haben soll, ihren Roman Der rote Faden, der 2020 im Rowohlt Verlag erschien und 2019 im Original unter What Red Was veröffentlicht wurde, zu schreiben. Es ist ihr Debütroman der in England, woher sie auch selbst stammt, begeistert aufgenommen wurde und auch in Deutschland sehr viele positive Kritiken erhielt. Rosie Price hat mehrere Jahre in einer der größten englischen Literaturagenturen gearbeitet, bevor sie sich vollständig dem Schreiben des Romans widmete. Das Thema des Romans, so erfährt man unausweichlich, wenn man sich im Vorhinein über das Buch informiert, soll eine Vergewaltigung sein. Ist es auch. Aber es ist eben auch noch wesentlich mehr als das.

Kate und Max lernen sich zu Beginn des Romans durch einen Zufall auf dem Campus kennen und werden schnell zu Freunden. Sie studieren beide Sprachen und haben eine Leidenschaft für Filme, was in Max' Fall auch dadurch bedingt ist, dass seine Mutter Zara eine bekannte Regisseurin ist. Kate wiederum möchte gern einmal selbst zum Film und bewundert Zara nicht nur für ihre Arbeit, sondern auch als Mensch. Durch die sich entwickelnde Freundschaft der beiden Protagonisten, die ein tragendes Element des Romans bildet, kommt es bald dazu, dass Kate Max' Familie kennenlernt. Nicht nur Max' Mutter, mit der sie sich schnell anfreundet, sondern auch seine Schwester Nicole, seinen Vater William und seinen Cousin Lewis.

Etwas weniger als das erste Viertel des Romans, welcher aus 49 Kapiteln besteht, hat eine eher langsame Erzählgeschwindigkeit. Price entwickelt auf diesen ersten 100 Seiten einen wichtigen Teil der Geschichte, die sich zunächst völlig unabhängig vom Plot der Vergewaltigung entwickelt und dennoch von großer Wichtigkeit ist. Die Leserinnen und Leser erfahren, dass Max' Großmutter Bernadette stirbt und sich die Geschwister William, Alasdair und Rupert nun um die bevorstehende Beerdigung und den Nachlass – das Haus der Großmutter – kümmern müssen, welches sie allerdings nur William und Alasdair vererbt hat. Der Handlungsstrang um Max' Familie, die geprägt ist von ihrer Vergangenheit, Erbstreitigkeiten, Ruperts Alkoholabhängigkeit und Unverständnis der verschiedenen Beteiligten untereinander, nimmt einen wichtigen Teil des Romans ein. Sie wirkt beinahe wie eine autonome Geschichte im Roman, verdeutlicht aber letztlich das Verhältnis, die Fragilität und die Zerwürfnisse der einzelnen Handelnden untereinander. Besonders beeindruckt hat mich dabei Price’ Darstellung der Beziehung zwischen Max und dessen Onkel Rupert, der nicht nur unter einem Alkoholproblem leidet, sondern aufgrund dessen schon mehrfach Unfälle hatte, bis hin zu einem Selbstmordversuch. Ganz subtil und langsam beschreibt sie das Sich-Annähern und wieder Voneinander-Entfernen, während ihr Verhalten teilweise kongruent ist, nur zu unterschiedlichen Zeiten und ihnen ein Zugang zueinander dadurch, zumindest zeitweise, nicht möglich ist.

Neben der tragenden Freundschaft zwischen Kate und Max sowie dessen Familiengeschichte, ist die Vergewaltigung von Kate, durch Max' Cousin Lewis auf einem Sommerfest, das dritte wichtige Element des Romans, das den Fortgang der Geschichte zu beschleunigen scheint. Kate leidet von diesem traumatischen Erlebnis an unter Panikattacken, Depressionen und dem Drang sich selbst zu verletzen. Sie trinkt Alkohol und nimmt starke Medikamente, um am „normalen“ Leben einigermaßen teilhaben zu können. Durch den Schmerz, den sie sich selbst zufügt, versucht sie den Schmerz der Erlebnisse zu überdecken. Rosie Price beschreibt dies in einer Schonungslosigkeit und gleichzeitig mitfühlenden Art, dass man als Leserin, im wahrsten Sinne des Wortes, Mitleid empfindet und die körperlichen Qualen der Protagonistin geradezu spüren kann. Kate ist außerdem außer Stande sich ihrem Umfeld, selbst ihrem besten Freund Max, mitzuteilen. Wochenlang schweigt sie über das Erlebte, unternimmt mehrfach den Anlauf sich zu offenbaren und verliert dann doch in letzter Sekunde den Mut, sich anzuvertrauen. Lange Zeit schafft sie es „nur“ andeutungsweise nach außen preiszugeben, dass sie etwas belastet.

„Kate wurde schnell klar, dass sich nicht sanft vermitteln ließe, dass sie vergewaltigt worden war. Es ließ sich nicht durch die Blume sagen, und weil es zwischen einer Vergewaltigung und keiner Vergewaltigung keine Grauzone gab, gab es auch keine Möglichkeit, vorsichtig vorzufühlen und ihren Zustand nur anzudeuten, um die Reaktion von jemandem abzuschätzen, dem man sich vielleicht anvertrauen könnte. Es gab nur vergewaltigt oder nicht vergewaltigt.“ (S. 118)

Und so hofft sie, dass das Geschehene von selbst immer kleiner wird und es sich irgendwann unausgesprochen in Luft auflösen wird.

An dieser Stelle offenbart sich eine Problematik, die wir in diesem Zusammenhang schon oft gehört haben und der wir deshalb nicht weniger Beachtung schenken sollten: die Angst der Betroffenen nicht ernst genommen zu werden. Die Unterstellung der Täter, die Frauen hätten es selbst gewollt. Und die Schuldzuweisungen der Opfer an sich selbst, sich nicht genug gewehrt oder nicht laut genug geschrien oder nein gesagt zu haben. Doch die Autorin stellt Kate eine Vertrauensperson, eine Verbündete, eine Leidensgenossin an ihre Seite: Zara, zu der Kate eine freundschaftliche Beziehung pflegt, scheint zu spüren – zu wissen – welches Geheimnis Kate umgibt. Sie ist schließlich auch die erste, der sie sich anvertraut und es stellt sich heraus, dass auch Zara als junge Frau vergewaltigt wurde. Was Kate jedoch verschweigt, ist die Tatsache darüber, wer ihr Vergewaltiger ist. Zwar schafft sie es nach und nach sich auch anderen Menschen zu offenbaren, doch viele Details behält sie für sich. Sie schützt sich damit nicht nur selbst, sondern auch ihre Freundschaft zu Max, seine Familie und leider letztlich auch den Täter.

Doch wie kann das Leben nach einem so tiefgreifenden und einschneidenden Eingriff weiter gehen? Price stellt hier zwei Beispiele gegenüber. Kate, die nach und nach über das Erlebte spricht und versucht weiter zu leben, sich wieder einen Alltag zu erschaffen, Arbeit zu finden – was sie nicht zuletzt auch Zara zu verdanken hat – und sogar wieder eine Beziehung führt. Und Zara, die ihre Vergewaltigung verschwieg, nicht als Opfer gesehen werden wollte und letztlich nie die Chance hat ihren Vergewaltiger zumindest zu konfrontieren, weil er tot ist. Die Autorin, Rosie Price, die selbst Opfer einer Vergewaltigung geworden ist, nutzt den Roman zur Aufarbeitung ihrer eigenen Erfahrungen, dem Nachspüren inwiefern dieses traumatische Ereignis sie selbst und ihre Sichtweise verändert hat, aber sie beleuchtet auch Möglichkeiten im Umgang mit dem Erlebten sowie deren mögliche Vor- und Nachteile. Dabei schließt sie auch das Umfeld des Opfers mit ein und zeigt, wie viele Menschen letztlich betroffen sind und dass das Problem kein ausschließlich privates ist, sondern ein gesellschaftliches.

Der titelgebende rote Faden ist dabei nicht nur das offensichtliche Thema, das sich durch den Roman zieht und ihn bestimmt, sondern vor allem die rote Ziernaht am Hemd ihres Vergewaltigers auf die sie starrt, während sie missbraucht wird und bereits versucht, ihr Inneres aus der Situation abzukoppeln. Dieses Rot empfindet sie im Nachgang folgendermaßen:

„Aber dieses Rot war keine Farbe, keine Warnung und keine Herausforderung, kein Stierkampftuch; nein, Rot war der Filter, durch den sie alles wahrnahm; es löschte die Zeit zwischen Gegenwart und jenem Moment aus, der nicht länger vergangen war, sodass sich ihr ganzes Wesen, von den erweiterten Pupillen über den stoßweisen Atem bis hin zur Kälte in ihrer Brust, neu ausrichtete, um die Welt von nun an durch diesen Filter zu betrachten.“ (S.135/136)

Warum man dieses Buch lesen sollte? Weil sich auch die Themen des Romans wie ein roter Faden durch unsere Gesellschaft ziehen. Es sind die Kämpfe und Rivalitäten in der Familie, Freundschaften und was sie uns bedeuten und geben können, aber eben auch der Umgang mit sexualisierter Gewalt, die uns leider ständig umgibt, auch wenn wir sie selbst gerade nicht wahrnehmen. Rosie Price schafft es, die Leichtigkeit und die dunklen Momente so in Einklang zu bringen, dass sie einen nicht erdrücken, aber mitfühlen und mitleiden lassen, ohne dabei dogmatisch zu sein, sondern feinfühlig und nicht ohne eine Brise Humor.

Ich freue mich, hoffentlich bald mehr von dieser jungen Autorin lesen zu dürfen.


In der nächsten Woche schauen wir in einem Studio B Klassiker auf eine Rezension aus dem Jahr 2018 zurück in der Irmgard Lumpini Hans Roslings “Factfulness: Ten Reasons We're Wrong About the World And Why Things are better than you think” besprach und fragen uns, ob wir auch nach anterhalb Jahren Pandemie wirklich noch optimistisch sein können.

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