Jeanine Cummins “American Dirt” wurde in den letzten beiden Ausgaben ausführlich unter verschiedenen Aspekten verrissen (Herr Falschgold) und gepriesen (Anne Findeisen).
So bleibt mir zur Synopsis nichts zu sagen, denn die kennt ihr schon.
Ich werde auf 2 Aspekte eingehen: wie ich die Lektüre empfunden habe und wie die Kritik das Werk einschätzt. Schließlich hat sich Herr Falschgold in seinem Verriss schon auf eine Diskussion über kulturelle Aneignung gefreut.
Ich habe “American Dirt” im Mai während eines Urlaubs in Portugal gelesen. Fand es sehr spannend, aber das hätten wir früher auch über “Winnetou” gesagt.
Bevor hier jetzt die große Diskussion beginnt: Ihr könnt Winnetou gern lesen, das hat euch niemand verboten, ihr könnt eure in den frühen 90ern mitgeschnittenen Videos in die Abspielgeräte schieben, nachdem die Öffentlich-Rechtlichen Sender die Lizenzen nicht verlängert haben: es ist nach wie vor erlaubt, auch wenn es in der BILD oder der WELT anders dargestellt wurde. (Mir ist allerdings unklar, warum das Beharren auf Winnetou für das Leben vieler so wichtig ist. Das ist ein bisschen so, als würde man darauf bestehen, dass “Vom Sinn unseres Lebens” voller unumstößlicher Fakten wäre oder “Hanni und Nanni” nicht von den damals üblichen Klischees tropfen würde. Es gibt ja auch viele Fans von “Sabrina”, ein ähnlich unglaubwürdiger, aber von vielen als romantisch empfundener Film, in dem die Namensgeberin als Tochter des Chauffeurs einer reichen Familie gerade dem Teenageralter entwachsen dem 30 Jahre älteren langweiligen und pflichtbesessenen Erben verfällt. Und so ist Winnetou eben ein von - teilweise wohlmeinenden - rassistischen Überzeugungen und falschen Informationen vollgestopftes Werk.)
“American Dirt” ist also spannend, solange man es als Pageturner behandelt, manchmal aber auch irritierend: Warum findet die Mordszene ausgerechnet bei einer Quinceañera statt? Das ist ein bisschen billig, weil es DER mexikanische Anlass für eine fette Familienfeier ist, der auch im Westen bekannt ist, da oft genug auch in hierzulande verfügbaren TV Serien stattfindend.
Warum ist die Protagonistin die ganze Zeit überrascht, ganz so, als ob sie nicht mit einem investigativen Journalisten gelebt hätte und als Buchhändlerin mit einer gewissen Bildung nicht wüsste, was um sie herum passiert?
Warum entgeht ihr, dass ihr Freund/Verehrer nicht nur ein feinsinniger Literat ist, sondern ein Drogenboss?
Warum gelten die U.S. of A als Land der Verheißung? Wenn selbst wir mitbekommen haben, dass diese oft ohne gültige Ausweisdokumente in schlecht bezahlten Jobs arbeitenden Migranten hart malochen und ausgebeutet werden und Gewalterfahrungen nicht unbedingt die Ausnahme sind, woher kommt dann diese Überhöhung?
Bereits vor “American Dirt” veröffentlicht wurde, lief die literarische Werbemaschinerie auf Hochtouren: Stephen King und Don Winslow rührten die Trommel, es gab einen Bidding War um die Rechte zur Veröffentlichung. Oprah Winfrey wählte das Buch für ihren monatlichen Buchklub aus (was quasi automatisch einen Bestsellerstatus nach sich zieht). Doch dann wurden kritische Stimmen laut, einige Leute zogen ihr vorab gewährtes positives Urteil zurück.
Es erschienen einige Kritiken, am meisten beachtet wurde wahrscheinlich die von Myriam Gurba hier im Original), die sehr lesenswert ist.
Jeanine Cummins hat im Nachwort zu “American Dirt” über ihre Motivation zum Buch geschrieben: “sie wolle den Migranten an der mexikanischen Grenze ein Gesicht geben, die sonst als gesichtslose braune masse (“faceless brown mass”) wahrgenommen würden”. Dies ist eine interessante Formulierung, die beim ersten flüchtigen Lesen als wohlmeinendes Motiv wahrgenommen werden kann. Es stellt sich dann aber die Frage, ob es nicht Jeanine Cummins Problem ist, die Migranten als solche “Masse” wahrzunehmen und damit das Klischee zu reproduzieren, dass es sich um eine “Flüchtlingswelle” oder “Flut” handelt. An dieser Stelle reproduziert sie ein Vorurteil, gegen das sie sich angeblich wendet. Dies ist umso problematischer, dass viele Ereignisse des Buches auch als Bestätigung rassistischer Vorurteile gelesen werden können. Angefangen von der Darstellung des Mordes von Lydias Familie zu Beginn, über die Behauptung, dass die mexikanische Polizei vollkommen korrupt und den Drogenkartellen verpflichtet ist, über die Gewalt auf der Flucht: all diese Narrative werden genau so von den Rechten verwendet, um zum einen in den USA eine immer restriktivere Politik gegenüber Migranten ohne Pass auszuüben, zum anderen, um den Ländern südlich der USA eine bestimmte Haltung gegenüber einzunehmen, wie z. B. den Krieg gegen Drogen (War on Drugs) oder eben auch eine Migrationspolitik zu forcieren, die kleine Kinder von ihren Eltern trennt und in Käfige sperrt. Jeanine Cummins versucht dabei, ihre Erzählung aus politischen Deutungen herauszunehmen und bedient sich dabei der berüchtigten Hufeisentheorie, nämlich, dass die Rechten und die Linken in ihren Extremen beide gleich verwerflich wären: “Es gibt die Erzählung der Rechten, dass diese Leute wie ein invasiver Mob von Kriminellen wäre, während die Linke die Sichtweise bedient, dass diese armen Leute unsere Hilfe bräuchten, dass sie gerettet werden müssten.” (“There’s the narrative from the right, which is that these people are like an invading mob of criminals, and then from the left, the narrative is, ‘Oh, these poor people, these impoverished people, they need our help, we must save them.’ And there’s this huge gap in the middle where their humanity should be.”)
Eine ausgrenzende Haltung mit einer emphatischen gleichzusetzen, die helfen möchte und dies konkret auch tut (indem z. B. linke Anwälte Familien wieder zusammenführten und Kinder aus Käfigen holten), während sich Jeanine Cummins auf die Mitte zurückzieht, die lediglich die Humanität der Migrant*innen wahrnimmt, dafür viel Geld bekommt, aber keinen Finger rührt, scheint absurd. Diese persönliche Haltung erläutert Jeanine Cummins im Nachwort: Ihr Verlobter und späterer Ehemann war vor ihrer Ehe ein Migrant ohne Ausweispapiere. Hier erscheint ihr dann die Betonung seiner Menschlichkeit nicht ausreichend, sondern sie betont ausführlich, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann ist und hohe Summen in Form von Steuern und Krankenversicherung zahlt. Dies bedient das hierzulande auch weit verbreitete Narrativ der “uns nützlichen Flüchtlinge”, das Menschen erst über ihre Arbeitsleistung oder finanziellen Status einen Wert zugesteht.
Und so erscheint die Protagonistin Lydia mit ihrem staunenden Unglauben über die Ungerechtigkeit der Welt und die Härte der Flucht als Verkörperung der Autorin. So richtig wohl ist ihr aber dabei nicht, weshalb sie sich im Nachwort des Buches auch für jede Menge Unterstützung von Leuten bedankt, die sich mit diesen Problemen besser auskennen. Um Zweifel an ihrer Legitimation auszuräumen, schreibt sie über die Erfahrung ihrer Großmutter, die aus Puerto Rico kam und in ihrer neuen Heimat lange (oder immer) fremd blieb. Einige Jahre zuvor hatte die Autorin sich noch als “weiß” verstanden, wie sie es selbst in der New York Times niederschrieb. (“What I mean is, I really don’t want to write about race…I am white… I’ll never know the impotent rage of being profiled or encounter institutionalized hurdles to success because of my skin or hair or name.”) In den zahlreichen Interviews und Portraits, die Teil der Werbemaschine für “American Dirt” waren, identifiziert sie sich selbst nun als Latinx*.
Dem erwartbaren (weil auf der Hand liegenden) Vorwurf der kulturellen Aneignung begegnet Jeanine Cummins, in dem sie sagte, dass jede*r mit “enormer Sorgfalt und Sensibilität diese Geschichten erzählen kann.”
Kulturelle Aneignung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Leute sich das Recht nehmen für andere zu sprechen, die das ganz hervorragend auch ohne sie können.**
Dabei ist Jeanine Cummins sich nicht zu blöd, auf das auch hierzulande weit verbreitete Gerücht des Cancelns und des “zum Schweigen bringens” zu verweisen (“I do think that the conversation about cultural appropriation is incredibly important, but I also think that there is a danger sometimes of going too far toward silencing people.”)
Von “American Dirt” wurden über 2 Millionen Exemplare verkauft, Jeanine Cummins bekam einen siebenstelligen Vorschuss und stand im Mittelpunkt zahlreicher Artikel und Portraits in renommierten Zeitschriften.
In einem sagte sie: “Stimmen von Nichtweißen und von Frauen werden seit langer Zeit fortgenommen. Aber ich habe nicht das Gefühl dafür verantwortlich zu sein.” Chapeau, Jeanine Cummins.
* eine Person mit lateinamerikanischen Wurzeln, genderneutraler Begriff
** “Across a Hundred Mountains”, Reyna Grande; “Across the Wire”, Luis Urrea; “By the Lake of Sleeping Children”, Luis Urrea; “Enrique’s Journey”, Sonia Nazario