Der Name Herbert Clyde Lewis war mir bis zwei Tage vor Verfassen dieser Rezension gänzlich unbekannt. Nicht sehr verwunderlich in Anbetracht der Tatsache, dass der 1909 in New York City geborene Autor, der gleichfalls als Journalist und Drehbuchautor arbeitete, bereits im jungen Alter von 41 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb und Zeit seines Lebens vier Romane verfasste, von denen der letzte erst posthum veröffentlicht wurde, welche aber bis dato nie ins Deutsche übersetzt wurden. Dem mare-Verlag ist es zu verdanken, dass Lewis nun aus der Versenkung wieder aufgetaucht ist – was für ein Wortspiel in Anbetracht des Buchtitels – und sein gerade einmal etwas mehr als 150 Seiten umfassender Roman Gentleman über Bord – 1937 im Original erschienen – seit diesem Jahr erstmals auch einer deutschen Leserschaft zur Verfügung steht. Der Empfehlung zweier Literatur affiner Gentleman in meinem Bekanntenkreis folgend, von denen mir einer das Buch auch direkt zur Verfügung stellte, ging ich also an die Lektüre.
Anders als Herbert Clyde Lewis selbst, der das Kind einer aus Russland stammenden jüdischen Einwandererfamilie war, siedelt er seinen Protagonisten Henry Preston Standish in einem wohlhabenden und gut situierten Milieu an. Standish ist Aktienhändler, ein Geschäftsmann also, dem es an nichts fehlt. Er hat eine Frau und zwei Kinder – Junge und Mädchen natürlich – mit denen er eine 4-Zimmer-Wohnung am Central Park West, also in bester Lage, bewohnt. „Er hatte von allem das Beste empfangen, ohne zu bemerken, dass es das Beste war. Auf fantasielose Weise nahm er alles für selbstverständlich.“ (S.38) Eines Tages wird er seines Lebens, wie er es bisher geführt hat, jedoch überdrüssig. Einer unbestimmten Unruhe folgend, verlässt er seinen Arbeitsplatz, verbringt zunächst einige Tage zu Hause und fasst dann, einer inneren Eingebung folgend, den Entschluss, sich auf eine Schiffsreise zu begeben. So landet er schließlich an Bord der Arabella. Dieses ist eigentlich ein Frachtschiff, weshalb die Anzahl der Passagiere, von der Crew einmal abgesehen, gering ist. Gerade einmal acht an der Zahl, vier davon Kinder. Dennoch entwickelt er mittels dieser wenigen Charaktere einen Einblick in die amerikanische Gesellschaft seiner Zeit.
Henry Preston Standish wird den Lesenden als, der Titel lässt es schon vermuten, wahrer Gentleman beschrieben. Er ist freundlich zu Kindern und höflich zu Damen. Er ist ordentlich, seine Wohnung stets makellos, die Speisekammer gut gefüllt, er treibt Sport, hat Kapital und „er trank mäßig, rauchte mäßig und schlief mäßig mit seiner Frau. Tatsächlich war Standish einer der ödesten Männer auf der ganzen Welt.“ (S. 39) Es passt nun also ganz und gar nicht zu seinem Habitus, dass er eines frühen Morgens, am 13. Tag seiner Schiffsreise, auf einem Ölfleck ausrutscht und ins Meer fällt.
Ab diesem Zeitpunkt beginnt nun ein wahres Wechselbad der Gefühle, in das Lewis seinen Protagonisten, aber auch seine Leserschaft stürzt. Zunächst ist Standish, und es überrascht ein wenig beim Lesen, sehr optimistisch, dass sein Fehlen auf der Arabella schnell von seinen Mitreisenden bzw. der Crew bemerkt werden würde und man in Folge dessen sofort wendet, um ihn zu retten. Er ist regelrecht vergnüglich und beginnt schon gedanklich, seiner Frau von seinem Missgeschick zu berichten. Zudem ist er nicht in der Lage, nach Hilfe zu rufen, was sich für einen Mann seiner Abstammung auch nicht schickt. „Drei Generationen von Gentleman hatten die Trompete im jungen Kehlkopf Standishs in ein liebliches Violoncello verwandelt.“ (S.29) Und auch das für den Lesenden völlig unangemessene Gefühl der Scham überkommt Standish, der sich darum sorgt, wie man darüber denken könnte, dass ein gestandener Mann wie er, zurück an Bord gehievt werden muss, ganz zu Schweigen von den Umständen, die er damit dem Kapitän und der Crew bereitet. Nach und nach wird er sich jedoch seiner Situation und der Tatsache, dass es keine schnelle Rettung geben wird, bewusst, und er beginnt, sich endlich auch seines maßgeschneiderten Anzugs zu entledigen und Vorkehrungen zu treffen, um möglichst lange im Wasser ausharren zu können.
Herbert Clyde Lewis erzählt die Geschichte eines Mannes, 35 Jahre alt, seines bisherigen Lebens überdrüssig, der sein Heim – seinen sicheren Hafen – verlässt. An Bord der Arabella stellt sich für ihn schnell das erhoffte Wohlgefühl ein und er beginnt sich sogar für seine Mitreisenden und deren Leben, welches konträr zu seinem eigenen ist, zu interessieren. Fast möchte man ihm für diesen Zugewinn an sozialer Kompetenz applaudieren. Doch der Ausbruch aus seiner Blase, die zuvor seine Lebensrealität war, wird für ihn schließlich zur existenziellen Bedrohung. Das Ausrutschen auf dem Ölfleck, dieser eine kleine Fehltritt wird zur Metapher dafür, wie schnell ein Leben aus seinen geordneten Bahnen geraten kann. Die wunderbare Komik, die Lewis seinem Roman angedeihen lässt, wird zu Tragik und Standish muss erkennen, dass ihm das Festhalten an seinen bis dahin gültigen Werten und Verhaltensweisen, wie der, sich stets als Gentleman zu geben, ihn aus dieser Situation nicht retten werden. Während seine Gefühle ein Wechselspiel von Hoffnung, Wut, Angst und Verzweiflung sind – die uns Lewis eindrucksvoll vermittelt – gelangt er aber auch zu folgender Erkenntnis: „Die Leute denken so lange nicht an den Tod, bis er sie fest anpackt.“ (S. 130) Während seine Hoffnung auf Rettung immer mehr schwindet, gebe ich als Leserin die Hoffnung nicht auf, dass man ihm doch noch zu Hilfe kommen wird.
Die Essenz des Ganzen ist aber letztlich für mich Folgende: Diese Geschichte ist grotesk und hat mich gleich dem Protagonisten ein bisschen in den Wahnsinn getrieben. Denn kein Mensch, der ins Meer stürzt und um sein Leben kämpft, denkt noch über seinen Anzug, Gutscheine oder das Geld in seinem Portemonnaie nach. Es ist eine Parabell auf unser verwöhntes Dasein, überdrüssig der guten Dinge und des Reichtums, die wir haben und damit zum Scheitern verurteilt sind. Wir sind wie die Myriaden der im Buch genannten Sterne – winzig klein und viele. Verloren im Meer oder im Meer von Menschen, unter denen es sich zu behaupten gilt. Vielleicht auch ein Abbild des selbst stets getriebenen Autors. Besteht die Aussicht auf Rettung? Das lasse ich an dieser Stelle offen. Aber womöglich sollte man im ein oder anderen Moment den Gentleman über Bord werfen und den Menschen an Bord lassen.
Es ist die Empfehlung einer Empfehlung: Herbert Clyde Lewis, Gentleman über Bord.