Bei Grenzübertritt im Zug von Freiburg nach Basel wird der hinter mir sitzende Fahrgast von einem Team aus deutscher und Schweizer Polizei racially geprofiled und fröhlich mit den Worten “Deutsche Grenzpolizei, wohin geht die Reise?!!” angefahren. Das sollte eigentlich die Schweizerin fragen, sonst klingt das potentiell nach Ausreiseverbot - aber das fällt nur einem Zoni auf. Der Nichtbiodeutsche gibt viel zu viel Information preis, denke ich, aber er macht das nicht zum ersten Mal, und weiß, was er tut. Die Beißhunde lassen von ihm ab und würdigen mich keines Blickes. Zu blass.
Die erste leibhaftige Schweizerin, der ich begegne, ist die Kartenverkäuferin im Kunstmuseum Basel. Sie ist eine attraktive Mittfünfzigerin mit streng nach hinten geflochtenem, blonden Haar und einer Brille. Sie ist in einem Chanelartigen Kostüm weit overdressed für ihren Job. Die Gepäckschließfächer im Museum verlangen nach Frankenmünzen, die hat man auf einem Tagesausflug in die Schweiz nicht parat. Also frage ich die Kassiererin, ob sie mir einen Euro in einen Franken wechseln kann, für das Schließfach, was sie mir im Brustton der Abscheu verneint, so etwas mache man hier nicht. Es klingt als hätte ich sie gebeten, mir eine Birne vom Kopf zu schießen. Ich bin ein Zoni, also starre ich sie dumm an und gewinne. Sie zögert ein paar lange Sekunden, bevor sie mir eine Metallscheibe aushändigt, mit der man das Schließfach offenbar verarschen kann und trägt mir auf, diese auch ja nach absolviertem Museumsbesuch zurück zu bringen.
Im Museum empfängt mich prominent unser Herr Jesus Christus mit ähnlicher Attitüde.
Das macht Sinn, wurde dieser Jesus doch von Hans Holbein, dem Jüngeren, gemalt, geboren als Deutscher, gestorben als Schweizer in Basel. Wie dargestellt macht der Schweizer solcherlei Aufmüpf nur versteckt. In den 48 Stunden in der Kantonsstadt erlebe ich nur zwei Akte des Widerstandes: Ein kleiner Junge, angezogen wie Nathan Shelley, schmeißt eine leere Fanta-Dose über die Straßenbahn, in der ich sitze. Sie verfehlt nur knapp eine Versammlung von ca. zwanzig Fahrkartenkontrolleuren, die wegen fehlender Sichtachse nicht wirklich wissen, was geschieht. Der zweite Akt der Rebellion ist ein Student, der am Rheinufer kifft und das ist erlaubt. Stark.
Nicht erlaubt ist in der Schweiz vieles.
Manches sogar gerichtlich.
Dabei gibt es Liberale in Basel.
Warum dieses Haus keine Farbbeutel ziert, wird hier klar:
Diese Mülltonne riecht übrigens nicht. Keine der von mir an einem Spätsommertag besichtigten Mülltonnen rochen, noch nicht mal der innerstädtische Kompostplatz. Auch die von mir stichprobenhaft aufgesuchten öffentlichen Toiletten waren olfaktorisch neutral. Es gibt übrigens achtzehnmal so viele öffentliche Aborte auf dem Stadtgebiet von Basel wie in den fünf boroughs von New York City.
Es gibt auch lustige Baselerinnen.
Organisieren kann man sich zum Beispiel in einer WG.
Das Bad in dieser WG darf man allerdings nur mit speziellen Seifen benutzen.
Das Viertel, in dem sich die Wohngemeinschaft befindet, nennt sich “Klein-Basel”, als wäre das richtige Basel groß. Alles sieht aus wie Prenzlauer Berg, plus ein paar Neubauten. Diese darf man nur mit IKEA-Kundenkarte betreten.
Am nördlichen Stadtrand von Basel liegt der Badische Bahnhof. Er gehört uns Deutschen und eine ausführliche Wikipedia-Recherche konnte mir zwar über den Fakt berichten, aber nicht zum Verständnis darob beitragen, warum sich die Schweiz seit mehr als einhundertfünfzig Jahren auf eine solche okkupatorische Situation einlässt. Beim Betreten des Bahnhofs fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Es ist ein großer, kahler, zugiger Klotz komplett ohne Werbung, innen oder außen. Es ist als stiege man 1984 im West-Berliner Bahnhof Zoo ein und im Ostbahnhof aus. Die Gepäckschließfächer verlangen jedoch auch hier Frankenmünzen, die man am Ende des Tagesausfluges immer noch nicht hat. Daneben hat es eine Wechselstube, wie man in diesen Landen sagt. Auch hier steht hinter dem Schalter eine uniformierte Mittfünfzigerin. Ich bitte sie, mir einen 5-Euro-Schein in Frankenstücke zu tauschen, worauf sie mir nach kurzem Spiel auf dem Taschenrechner mit ehrlichem Bedauern mitteilt, dass ob des schlechten Kurses, der geringen Summe und der damit verbundenen Gebühren, ich ca. zwei Franken und fünfizig Rappen bekommen könne. Das Schließfach verlangt aber 3,50 CHR. Der Trick mit dem dummen Zoniblick verfängt auch hier. Sie teilt mir nach langen Sekunden mit, dass sie gehört habe, es gäbe im Bahnhof weitere Schließfächer, die wohl mit Euromünzen funktionierten. Auf alle Fälle habe sie schon Leute dorthin geschickt und die seien nie zurückgekehrt. Klingt wie eine Falle. Als Wegbeschreibung deutet sie auf einen Gang, dann am “Korb” vorbei, dann am Zoll vorbei und rechts davon wären die Fächer wohl. Ich hake nach, was sie mit einem “Korb” meine, sie wiederholt “der Korb”, das Lädeli, wo man shoppen könne. Ok, ein Laden namens “Korb”, warum nicht, die possierliche Schweiz. Ich folge ihren Anweisungen, lasse den “Coop” Supermarkt rechts liegen, komme am Zoll und uniformierten Grenzsoldaten vorbei und siehe da, ein Schließfach, welches für unironische 2,50 EUR meinen Rucksack aufnimmt, auf dass ich einen letzten Ausflug vor der Heimfahrt frei von Beschwerde unternehmen kann.
Es geht in einen Vorort von Basel. Diese heißen alle “Vorort Dorf”, falls jemand das dörfliche nicht erkennt. Wenn Klein-Basel ein einziges, großes Prenzlauer Berg ist, in dem man ohne Markenschuhe und Steppweste nicht wohnen darf, wird man in “Riehen Dorf” schon ausgewiesen, wenn man zu lange in einen Vorgarten schaut. Dass man auf dem Dorf ist, merkt man daran, dass der Kuchen beim einzigen Bäcker furztrocken ist und man für das Frühstück trotzdem 20 CHF bezahlt. Das bereitet einen darauf vor, dass der Eintritt in die ansässige Galerie “Fondation Beyeler” 25 CHF pro Person kosten wird. Immerhin ist dies dem (nicht uniformierten) Hipster an der Kasse ein bisschen peinlich, weil man für das Geld sonst Sammlung und Ausstellung sähe, aktuell aber sei die Sammlung geschlossen. Also bekommen wir nur die Bilder von Niko Pirosmani zu sehen, das Stück für 50 Rappen. Das ist ob der grandiosen, witzigen, naiven Bilder des Georgiers (1862–1918) jeden Eurocent wert.
In der Ausstellung herrscht, wie überall in der Schweiz, Dresscode. Eine Hornbrille, ein Schal, ein Jackett oder Kostüm und Markenschuhe sind gesetzt. Ich komme nur bei weitester Auslegung der Ausrüstungsgegenstände rein. Eine weitere Regel in einer Schweizer Ausstellung lautet “Stehe nie vor einem Bild!”. Dieser Imperativ gilt nur für die Anderen. Entsprechend wird mit Blicken gerempelt, wann immer man sich zu einem Detail im Bild in den Blickwinkel eines anderen Besuchers beugt. Es wird auch nicht gelacht, was im Angesicht solcher Meisterwerke der Witzischkeit ein bisschen dumm ist.
Das Gebäude der “Fondation Beyeler” ist edelst ausgeführter Standardmodernismus mit Geschmack und wirft die in der Schweiz zwangsläufige Frage auf, durch welche Verbrechen der Fondationsstifter sich diese generische Opulenz hat finanzieren lassen. Überraschenderweise ist Ernst Beyeler (1921-2010) tatsächlich nur ein Kunsthändler gewesen und damit wenigsten eine Mittelbarkeit entfernt vom Schweinegeschäft. Solange seine Stiftungsenkel solche tollen Ausstellungen produzieren, lassen wir das gelten. Der schlechte Espresso im Museumscafé lässt mich dann wieder lachen, weil ich als Ossi offenbar dem Deutschschweizer näher bin, als dieser dem Italoschweizer aus dem Tessin.
Zurück im Ostbahnhof bezahle ich im “Coop” eine Flasche Evian mit einem 5-Euro-Schein, ich bin schließlich in Deutschland. Ich erhalte 3,50 CHF zurück. Irritiert, die Münzen in der offenen Hand, verwende ich ein letztes Mal den dummen Zoniblick. Es vergehen lange Sekunden aber die uniformierte Kassiererin blinzelt nicht. Ich lege das Geld vorsichtig auf den Wechselgeldteller und gehe nachdenklich auf den Bahnsteig. Zehn Minuten später bringt mich der ICE außer Landes.