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Claire Keegan: Reichlich spät
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Claire Keegan: Reichlich spät

Reichlich spät : Keegan, Claire, Oeser, Hans-Christian: Amazon.de: Bücher

Den meisten Menschen dürfte die Redewendung: „Geben ist seliger denn Nehmen“, deren Herkunft auf die Bibel zurück geht, geläufig sein und ebenso die Bedeutung dieses Satzes. Letztlich ist es nichts anderes als die Aufforderung zur Großzügigkeit, die den positiven Nebeneffekt haben kann, jemand anderem eine Freude zu machen, an der man sich im besten Fall noch selbst erfreuen kann. Es begab sich, dass ich kürzlich von einer Freundin einen Gutschein für die örtliche Buchhandlung bekam, der ihr selbst wenig nützlich war, da sie ausschließlich Hörbücher hört. Die Freude meinerseits war natürlich groß, denn was gibt es schon Besseres als kostenlose Bücher? Weit oben auf meiner Wunschliste stand die kürzlich auf Deutsch erschienene, neue Erzählung der irischen Autorin Claire Keegan Reichlich spät, die im Steidl Verlag veröffentlicht wurde und gerade einmal 55 Seiten umfasst. Don't judge a book by it's cover, so sagt man, aber schon die Aufmachung der schmalen, als Hardcover gebundenen Ausgabe zog mich magisch an und der Gutschein fand seine Bestimmung.

In ihrer neuesten Erzählung beschreibt uns Claire Keegan einen Ausschnitt aus dem Leben ihres Protagonisten Cathal, der Büroangestellter in Dublin ist und in der Nähe, einer kleinen Stadt namens Arklow, lebt. Der Tag, um den sich die Handlung dreht, sollte der Hochzeitstag von Cathal und seiner Verlobten Sabine sein, die sich auf einer Tagung kennengelernt hatten. Warum es zu dieser Hochzeit aber nicht kommt, wird anhand von Cathals Erinnerungen rekonstruiert und legt letztlich viel mehr frei, als das bloße Scheitern einer Beziehung.

Etwas mehr als zwei Jahre ist es her, dass Sabine und Cathal sich in Toulouse kennengelernt hatten und er sie – es hatte sich herausgestellt, dass sie ebenfalls in Dublin arbeitet – zu sich eingeladen hat. Sie verbringt schließlich den Großteil der Wochenenden bei ihm, liebt das Leben auf dem Land, kocht gern und es schwingt in allem ihrem Tun eine Leichtigkeit mit. Die Entscheidung zu heiraten gleicht dann aber eher einem Beschluss oder einer Verhandlung darüber, ob man es tun sollte oder nicht und ist weit entfernt von einem Antrag oder hat gar etwas mit Romantik zu tun. Es kommt beim Lesen auch nicht das Gefühl auf, dass Liebe eine große Rolle in dieser Entscheidung spielt.

Grund dafür ist, dass Cathal ein kleingeistiger, geiziger und frauenverachtender Spießer ist, der zwar das Bild von Mann und Frau und einer heilen Welt mit Haus und Hof und am besten noch Kind und Katze gern sieht, aber letztlich doch einfach gern seine Ruhe hätte. Der es hasst, sich um den Abwasch zu kümmern, das ihm gekochte Essen aber gern entgegennimmt. Der zwar gern hätte, dass seine Verlobte bei ihm einzieht, dem aber am liebsten wäre, wenn sie nicht so viel „Zeug“ aus ihrer alten Wohnung mitbringen würde, denn das bedeutet ja, dass sich in seinem eigenen kleinen Kosmos etwas verändert, ja verändern muss. Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes Raum für sich beansprucht. Ihm wäre am liebsten, sie wäre einfach nur da und ansonsten bliebe alles wie gehabt. Er ist jemand, der sich noch nach Wochen über den zu hohen Preis von Kirschen echauffiert und der Frauen als Fotzen, Huren und Schlampen bezeichnet, weil man als irischer Mann eben so redet.

Es drängt sich mir unweigerlich die Frage auf, was das, salopp gesagt, eigentlich alles soll? Ein so gewaltiges Problem wie Misogynie werde ich in meiner heutigen Rezension sicher nicht lösen, also bleibe ich an dieser Stelle beim Protagonisten, dem ja in der Erzählung selbst auch zumindest punktuell bewusst wird, was geschieht. So reflektiert er beispielsweise an einer Stelle seine Sprache, indem ihm klar wird: „[...]hatte er gesagt – und sofort gespürt, wie der lange Schatten der Sprache seines Vaters auf sein Leben fiel.“ (S.27) Es sind also teilweise anerzogene Verhaltensmuster, über Generationen hinweg weitergegeben, die sein Handeln, Denken und Sprechen beeinflussen – wie wir an einer anderen Stelle an einem Exempel aus seiner Kindheit ebenfalls noch einmal verdeutlicht bekommen – aber auch eine von der Gesellschaft verinnerlichte Ablehnung gegen Frauen. Die wenigen lichten Momente, in denen ihm der Gedanke kommt, dass es vielleicht auch anders sein könnte, schiebt er jedoch direkt wieder beiseite. Einen aus Erkenntnissen resultierenden Effekt, nämlich den, sein Handeln zu verändern und auch sein Denken zu hinterfragen, gibt es nicht. Seine Verlobte Sabine bringt es für sich folgendermaßen auf den Punkt: „»Weißt du, was Frauenfeindlichkeit im Kern ausmacht? Letzten Endes?« […] »Nicht geben zu wollen« (S.43) Und damit ist nicht nur das Geben, das selige Geben von materiellen Dingen gemeint, sondern auch das Jemandem-etwas-zugestehen wie beispielsweise das Wahlrecht, das sie an dieser Stelle selbst als Beispiel nennt.

Zu Recht wird Claire Keegan als Meisterin der kurzen Form beschrieben, wie sie in Reichlich spät einmal mehr unter Beweis stellt. Beeindruckend ist aber vor allem, wie sie es schafft auf diesen wenigen Seiten eine ganze Welt zu erschaffen, die einem während des Lesens regelrecht vor Augen steht und welch eine Bandbreite an zwischenmenschlichen Konflikten sie zu beschreiben vermag und dabei den Nagel so auf den Kopf trifft. Dabei ist kein Wort zu viel oder wenig, aber alles von Bedeutung. Auch wenn es überraschend scheint, so schafft es Claire Keegan doch ein Spektrum an Themen in ihrer Erzählung zumindest anklingen zu lassen, nämlich beispielsweise Machtstrukturen, Familie, aber auch Einsamkeit und ging mir damit teilweise auch ziemlich ans Herz. Dass ich ein Fan der Autorin bin, ist wohl deutlich geworden und dass sie auch von anderen so gefeiert wird, finde ich großartig. Zwar ging es dieses Mal nicht ohne Spoiler, nichtsdestotrotz ist es Reichlich spät, auch mit diesem Vorwissen absolut wert gelesen zu werden und eine ausdrückliche Empfehlung. Selten habe ich einen Gutschein besser angelegt und möchte an dieser Stelle nochmal ein herzliches Dankeschön dafür loswerden.

Wenn ihr mehr von mir und Claire Keegan hören und lesen möchtet, findet ihr in unserem Archiv noch eine Besprechung zu ihrem Roman “Kleine Dinge wie diese”.

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