Lob und Verriss
Lob und Verriss
ABBA
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ABBA

Fakenews mit Musik

Die Band Abba und ihre Musik waren definitiv vor meiner Zeit, auch wenn sich das früh morgens nicht so anfühlt. Nun gibt es Musik, bei der es keine Rolle spielt, wann sie entstanden ist: Bach, The Beatles, Abba eben, sind zeitlose Kunst. Solche Musik basiert auf so grundlegenden Harmonien, sind so intrinsisch dem, was in unseren Birnen vorgeht, dass es keine Rolle spielt wie alt oder jung, klug oder hohl sie sind - nach Bach, The Beatles oder Abba rockt jeder, entsprechend der Mode seiner Zeit.

Während man den kompletten Bach auf einhundertsechzig CDs kaufen kann (was, Nerdalarm!, ich definitiv getan habe) und ich in meiner Voradeleszenz irgendwie mitbekam, dass sich Jugendliche früher unter Androhung von Gewalt zwischen den Stones und den Beatles entscheiden mussten, und ich das, was weiß denn ich warum, als Aufruf nahm und tat - und ich somit als zehnjähriger mit Popelinehosen, dicker Brille und einem Bibliotheksausweis auf einmal Beatlesfan wurde, logisch - war mir hingegen Abba komplett wurscht. Die dudelten im Radio, who cares.

In einem anderen Erzählstrang bin ich als Fahrerlaubnisloser, der so fahrerlaubnislos ist, dass er das Ding, was er nicht hat, immer noch Fahrerlaubnis nennt, seit jeher zur Städtereise verdammt und darin gut bewandert. Erkläre mir, wie der ÖPNV in deiner Stadt funktioniert und ich bin good to go. Also haben meine reißenden Knochen irgendwie schon jede europäischen Großstadt gesehen außer, wie konnte das passieren? London! Und dabei hat sich da sovieles angesammelt, allein aus dem Lesen von Büchern: Hillary Mantels Henry VIII. Wolf Hall-Serie spielt fast ausschließlich dort, Patrick Stewarts Autobiographie zu nicht unerheblichen Teilen, Slow Horses immer wieder. Die Austragungsorte will man doch mal sehen - und also wird das jetzt gemacht. Es wurde Geld weggelegt, denn dank russischer Oligarchie und allgemeinem komplett am Arschsein der Welt ist alles die Thames aufwärts von absurdem Preis - aber zehn Tage müssen irgendwie drin sein.

Wenn man dann dort ist, in London, und alle alten und neuen Häuser gesehen hat schaut man, was es altersgerecht am Abend zu tun gibt und da der Punk in London schon lang nicht mehr zu Hause ist und meine Knochen für Grime-Parties und shit nur noch literarisch zu begeistern sind, Musicals eine absurde Erfindung für Leute sind, denen Oper zu kopflastig ist und Fussball gerade nicht stattfand, blieb mein schweifender Blick hängen an einer Werbung für die “Abba Voyage”: was soll denn das nun schon wieder sein?

Nun, es ist eine Show, für die eine extra Konzerthalle gebaut wurde, weil, da tritt Abba als Hologramm auf antwortet mir Google. Ok, not interested. Musikalisch, s. oben, Radiomusik. Aaaanndererseits… wirklich gute Radiomusik. Wer schon mal bei einer Hochzeit DJ war, und das waren wir ja alle schon mal, weiß, Abba geht immer. Jeder hat sofort drei Songs im Ohr. “Loving me, loving you”, “Waterloo” und “Dancing Queen”. Und dann kommen noch drei mehr: “Money, Money”, “Winner takes it all” und “Thank you for the music”. Wahnsinn, was das Hirn so behält.

Außerdem.. so als Nerd, s.o., werden bei “Hologramm” sofort eine halbe Million sehr bereiter Synapsen aktiviert. Enterprise, Star Wars und jede zweite andere Franchise hat flimmrige Leute mitten im Raum stehen, um die man herumgehen kann und die einen böse, wütend und extrem gewaltbereit anstarren, aber einem, hehe, nix können, weil, sind dort, nicht hier. Nun, und dafür bauen die also eine Halle mitten in London, Fassungsvermögen 3000 Leute für acht Shows die Woche, Ticketpreis 130 EUR aufwärts, what the actual fuck, wie wir Deutsche sagen. Ok! sagen wir Deutsche, wir haben gespart, weil russische Oligarchen und allgemeines am Arsch sein des Vereinigten Königreiches, siehe oben, da kommt es auf 260 EUR jetzt auch nicht mehr an. Wir überweisen also Ticketmaster all unser Geld und wie sich das gehört noch ein paar Pfund für dubiose Gebühren obendrauf und fahren da jetzt mal hin.

Da wir nicht komplett bescheuert sind, sind wir für das Event natürlich komplett underdressed. Wir stehen, gekleidet in geschmackvollem Schwarz inmitten von Glitzerhosen, Plateauschuhen, Stirnbändern - alles ist am Start in London Stratford. Die Security hat das Niveau eines Sicherheitsspiels zwischen Lok Leipzig und Chemie. Die Alkpreise sind eher so Allianz-Arena. Aber für Abba braucht man keine Stimmungsaufheller.

In der Mitte der Halle liegt ein Dancefloor für die Darbietungen der Hardcore-Björn-Agnetha-Anni-Benny-Fans, dahinter Ränge wie beim Kessel Buntes für das Klatschvieh, darunter leicht erhabene Balustraden, von denen aus man die Bekloppten in der Mitte sehen kann. Das passt am besten zu uns, das ist unser Platz und trotzdem nur 40 Meter von der Bühne entfernt!

Diese ist noch von Leinwänden verdeckt, auf denen Schnee durch einen, wir nehmen an, schwedischen Wald weht. Ok, dahinter wird wohl das Holodeck sein. Der Coundown läuft, es bewegen sich Leute mit “Nicht fotografieren” schildern durch die Arena und dann geht der Vorhang auf, und, holy fucking moly, aus dem Bühnenboden fährt Abba hoch. Und singt. Links der Typ mit der Gitarre, rechts der am Klavier. In der Mitte im 70er-Glitterlook die beiden Ladies. Sie sind im besten Alter zwischen zwanzig und dreißig und machen die üblichen Schlagergesten - the Moon, the Sun, the Magic - in pfauenhaften, fledermausbearmten Glitzerklamotten. Dann drehen sie sich, lachen sich an. Sie gehen nach hinten auf die Bühne oder kommen nach vorn um das Publikum anzusingen. Was geht hier vor, was geht hier ab?! “Die sind nicht da” sagt das Hirn. “Doch, da sind sie!”, sagen die Augen. Das Publikum wiegt sich, staunt und klatscht und johlt nach dem ersten Song - stehende Ovationen für Künstler, die definitiv dort nicht sind. Nicht. Auf. Dieser. Bühne. Stehen.

Doch, stehen sie. Dort! Da stehen Sie doch, drehen sich und verbeugen sich und lachen. Es ist absolut unfassbar. Es ist, als wäre ein Raumschiff gelandet. Fake News mit Musik!

Jetzt geht links von der Bühne das Licht an, eine Band erscheint. No way, da stehen jetzt nicht noch zehn Leute nicht da? Ok, puh.. Die Band ist echt und ist auch die, die die Musik macht. Ein bisschen weniger angeleuchtet, wie Abba in der Mitte der Bühne, bewegen sie sich aber genauso echt, wie die, für die diese Halle gebaut wurde. Psycholgisch verstärkt das natürlich die Illusion: links Leute in echt, aber nicht ganz so gut ausgeleuchted wie der Act in der Mitte und da dieser genauso aussieht nur besser, kann dieser keine Illusion mehr sein: dort stehen Menschen! Definitiv.

Stehen sie definitiv nicht!

Das Hirn fasst nicht, was es sieht.

Auf der Mitte der Bühne haben die beiden Sängerinnen mittlwerweile die weiten Pfauenpollunder ausgezogen (wann haben sie das gemacht?!) und stehen in glitzernden Onesies und singen irgendeinen Hit. Aber das geht nicht, denn Agneta ist 74 und Benny, der am Klavier, ist 77. Dort oben stehen aber Mittzwanziger und tanzen und singen und es ist alles der komplette Brainfuck. Rechts gehen jetzt die auf Großkonzerten üblichen Leinwände an, auf denen die Protagonisten, von dunkel gekleideten Kameramännern umtanzt und abgefilmt, in Großaufnahme erscheinen, für die Leute auf den billigen Plätzen ganz hinten. Und endlich, endlich hat das Hirn was zu greifen. Also das Nerdhinrn, welches gute Playstationgame-Cutscenes zu schätzen weiß und trotz wirklich toller Motioncapture-Tech und hochauflösenden Texturen sieht, wenn etwas aus dem Computer kommt. Der Nerd, der bei Avatar geradenoch sieht, dass der Blaue Dude nicht echt ist, sieht hier in London geradeso dass diese Nahaufnahme von Anni-Frid aus dem Computer kommt. Der Geek in mir checkt kurz, ob es das übliche kurze Delay gibt, zwischen der Großaufnahme auf der Leinwand und dem was auf der Bühne passiert und erschrickt schon wieder zu Tode. Auf der Bühne steht Abba. Holy Shit. “Nein, steht dort nicht”, sagt das Brain. “Bist Du blind?” fragen die altersschwachen Augen zurück. “Selber” wird das Hirn ausfällig und schaltet nun komplett auf stur und ich gebe auf und werde die nächsten 90 Minuten nur noch gänsehäutig staunen.

Das ist also die Zukunft. Der skeptischste aller Technerds, der zynischste aller Nichtausderruhezubringenden ist gerade komplett gebrainfucked und steht da und wippt nach Abba und sie stehen da oben und nichts, gar nichts, kann mich mehr davon abbringen, dass ich gerade bei einem Abbakonzert bin.

Abends, im Bett, schlafe ich ein zu “Mamma Mia” im Ohr und Abba vorm Auge und auch jetzt, Tage später, kann ich die Augen schließen und sehe vor mir vier junge Abba-Menschen in zu perfekter Echtheit, die ich definitiv nie gesehen habe - aber eben doch.

Ein alter Nerdwitz geht so: “Das Leben ist geil, nur die Grafik ist scheiße”. Aber da sind die Nerds jetzt dran. Es wird wild!

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Literaturkritik und -diskussion von und mit Anne Findeisen, Irmgard Lumpini und Herrn Falschgold
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Herr Falschgold